Kapitel 10:

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Als wir ein paar Tage später im Morgengrauen Land sichten, liege ich in den Armen der schönen Frau mit den meerblauen Augen. Vollkommen unbekleidet.
Die vergangene Nacht hat sich wie ein glühendes Eisen in meine Erinnerung eingebrannt.
Noch nie habe ich Nähe und Intimität auf diese Weise erlebt. Noch nie bin ich einem anderen Menschen so nahe gewesen.
Und noch nie habe ich mich in der Umarmung eines anderen so wohl und geborgen gefühlt.
Und wieder einmal habe ich den schmerzhaften Wunsch, meine Gefühle wären nicht einseitig. Doch das sind sie. Und ich muss mich damit abfinden.
„Wo sind wir gerade?", murmle ich müde und kuschle mich vertrauensvoll an den nackten Körper neben mir.
Der Captain seufzt nur und zieht mich noch ein Stück näher an sich heran. Ihre blauen Augen blicken tief in meine.
„Weit weg von zuhause", erwidert sie sanft und küsst mich zart auf die Stirn.
Ich beschließe nicht weiter nachzufragen, als ein lauter Schrei an Deck erschallt.
„Captain! Sieben Schiffe der Royal Empire gesichtet!"
Zuerst ist die junge Piratin wie erstarrt. Doch dann springt sie auf und schlüpft gehetzt in ihre Kleider. Auf mich achtet sie nicht im Geringsten, als sie zur Tür hinausstürmt und mich alleine im Halbdunkeln zurücklässt.
Mein Herz beginnt schneller zu klopfen, als ich durch ein kleines Fenster nach draußen blicke und am Horizont die Flagge meines Vaters am vordersten der sieben Kriegsschiffe entdecke.
Er kommt, um mich zu befreien! Alles wird gut werden!
Die Black Widow wird von der Royal Empire in die Zange genommen.
An Bord bricht Chaos aus.
Und dann ertönen die ersten Kanonenschüsse.
Das Schiff wird von den heftigen Treffern erschüttert.
Soldaten stürmen das Deck.
Säbel klirren.
Männer schreien.
Körper fallen zu Boden.
Und mitten in all dem Tumult gelingt es mir, nur mit einem Dolch bewaffnet zwischen den erbitterten Feinden bis nach hinten ans Deck der Black Widow zu rennen.
„Emilia!"
Das war mein Vater. Aber ich bleibe nicht stehen. Ich renne weiter.
Und gerade als ich die letzten Treppenstufen erklimme, sehe ich wie die junge Piratenfürstin mit einem blitzschnellen Streich zwei Soldaten enthauptet. Leblos fallen ihre Körper vor mir aufs Deck.
„Emilia! Was tust du hier?! Versteck dich!", ruft der Captain mir aufgebracht zu, doch ich lasse mich nicht beirren.
Schnell renne ich auf die schöne Piratin zu und komme nur kurz vor ihr schwankend zum stehen.
„Ich muss dir noch etwas sagen, bevor-"
Erneut wird das Schiff von schwerem Kanonenfeuer getroffen.
„-bevor wir vielleicht beide sterben!"
Der gefürchtete Captain sieht mich verwirrt an. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Und bevor mich der Mut wieder verlässt, zücke ich den kleinen Dolch und versenke ihn tief in der linken Seite ihrer Brust.
Zutiefst entsetzt starrt mich die hübsche Piratin an. Ihre blauen Augen wirken fassungslos.
Auch mir rinnen Tränen der Verzweiflung über die Wange, als die einst so starke Frau zurück taumelt und auf die Knie fällt. Sofort bin ich bei ihr und ziehe sie schützend in meine Arme. Meine Finger umfassen liebevoll ihr engelsgleiches Gesicht.
„Ich liebe dich. Aus tiefstem Herzen", flüstere ich und lasse meinen Tränen und meiner Trauer nun freien Lauf, „deine Seele ist gerettet. Aber dich konnte ich nicht retten..."
Ein trauriges Lächeln legt sich auf die blassen Lippen der bildschönen Frau in meinen Armen, während ein dünner Rinnsal an Blut aus ihrer Brust hinaus zu fließen beginnt.
„Emilia."
Ihr Atem geht bereits unregelmäßig.
„Du liebst mich nicht. Verstanden? Ich will nicht...dass, dass du es tust."
Verzweifelt blicke ich die junge Piratin an.
„Aber- aber dann..."
„Ja...Und du hattest Recht. Ich habe noch ein Gewissen. Und-...und es sagt mir, dass ich diese Schuld ganz alleine tragen muss."
Weitere Tränen rinnen über meine Wange und ich lege ein letztes Mal meine Lippen auf die des furchtlosen Captains.
Und sie...erwidert den Kuss.
„Mein Name... ist Aurelia. Bitte-... vergiss ihn nicht..."
Ich nicke nur stumm, zu überwältigt von meinen eigenen Gefühlen.
Mit einem zitternden Lächeln legt Aurelia ihre warme Hand an meine Wange und ich küsse noch einmal liebevoll ihre Handfläche, bevor die schöne Frau zurück in meine Arme sinkt und sich ihre blauen Augen für immer schließen.
Und als mein schmerzerfüllter Schrei über das Kampfgetümmel schallt, ergibt sich auch der letzte Pirat freiwillig.
Die Black Widow ist Geschichte.
Und mit ihr die berühmteste Piratin aller Zeiten.

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