Kapitel 17:

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Diese Nacht in Junes Armen, eng an sie gekuschelt und mit unzähligen gefühlvollen Küssen und Berührungen hat sich wie ein glühendes Eisen für immer in mein Gedächtnis eingebrannt.
Und trotz meiner Sorge um Zeus, Hera, Hades und Dionysos, war ich einfach nur glücklich. June hat es wirklich geschafft die dunklen Gedanken in mir zum verstummen zu bringen.
Ihre Nähe hatte mich schon früher ungemein beruhigt, aber nun lässt sie mich vollkommen entspannen. Und wenn mich dann noch zarte Fingerspitzen an meiner Wange oder Hüfte berühren und rote Lippen mich beinahe um den Verstand küssen, gibt es für mich keinen schöneren Ort auf dieser weiten Welt.
June ist mein Zuhause geworden.
Nach so vielen Jahren...habe ich endlich das Gefühl, angekommen zu sein. Und es ist wunderschön. Nur...werde ich mein Zuhause verlassen müssen, sobald der Zirkus weiter zieht.
„Du siehst heute morgen deutlich erholter aus, als gestern Abend", bemerkt June sanft, als wir uns zum Frühstück auf die Terrasse setzen und zwinkert mir einmal aufmunternd zu.
„Das könnte vielleicht an dir liegen", gebe ich mit einen kecken Lächeln zurück und schlage mein Frühstücksei auf.
Trotzdem. Je mehr Zeit an diesem Morgen verstreicht, desto unruhiger werde ich.
Was ist, wenn mein Vater bereits von dem Vorfall gestern Nacht erfahren hat? Und was ist, wenn er meinen vier Schützlingen schon etwas angetan hat?!
Junes Worte, dass mein Vater den Tigern höchstwahrscheinlich erst etwas tun würde, wenn ich dabei wäre, um mich härter zu treffen, konnten mich nur bedingt beruhigen.
Und so ist es kurz nach 9 Uhr, als June und ich gemeinsam und mit klopfendem Herzen den Zirkus betreten.
Es ist still auf dem Platz zwischen den Zelten. Zu still.
„Normalerweise müssten hier unzählige Menschen herumlaufen. Die Tiere füttern, trainieren...aber hier ist niemand", flüstere ich June besorgt zu und sie nickt verstehend. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, als ich auf dem schnellsten Weg zu den Käfigen der Tiger laufe.
Wenn mein Vater ihnen etwas angetan hat, dann-!
„Romy!"
Ich fahre erschrocken herum und sehe Bruce eilig auf mich zulaufen. Als mein Showpartner bei mir und June angekommen ist, mustert er die junge Schauspielerin mit einem kurzen, prüfenden Blick.
„Romy, dein Vater liegt im Krankenhaus. Hades hat ihn angegriffen. Als er gerade dabei war Zeus mit der Peitsche zu schlagen."
Ernst sieht Bruce mich an. Mir aber weicht mit einem Mal alles Blut aus dem Gesicht. Und mir wird übel.
„Zeus! Wo ist er?! Geht es ihm gut!?", bestürme ich meinen Showpartner entsetzt, doch der schüttelt nur ruhig den Kopf.
„Es sollte mich eher wundern, dass du zuerst nach Zeus fragst und nicht nach deinem Vater. Es geht ihm gut. Ich habe ihn untersucht, es ist nur ein kleiner Kratzer. Er hat ein dickes Fell."
Die Angst in mir schrumpft wieder ein Stück und ich atme erleichtert aus. Nur unterbewusst nehme ich wahr, dass June ihre Hand auf meine Schulter gelegt hat.
„Deinem Vater allerdings...Hades hat ihn schlimm erwischt. Er hat ihn im Genick gepackt und einmal quer über den Platz geschleift, bis ich endlich dazwischen gehen konnte. Ich weiß nicht, ob...ob er es überlebt", sagt Bruce mit ernster Stimme und sieht mich tief an. Dann huscht sein Blick zu June und als er mich erneut anschaut, erkenne ich noch etwas in seinen dunklen Augen.
„Bruce...wie ist Hades aus seinem Käfig gekommen?", frage ich mit ebenso ernster Stimme.
Der Dompteur hält meinem prüfenden Blick weiterhin stand. Und als er spricht, sind seine Worte mit Bedacht gewählt.
„Jemand...jemand muss vergessen haben, seine Tür zu schließen."
Ich verstehe sofort. Es war Bruce! Bruce hat Hades aus seinem Käfig gelassen, als mein Vater Zeus mit der Peitsche schlug. Denn Bruce kann es ebenso wenig mit ansehen, wenn es den Tigern schlecht geht, wie ich!
Und ich weiß, dass ich eigentlich furchtbare Angst um das Leben meines Vaters haben und den Dompteur abgrundtief hassen müsste, doch nichts dergleichen ist der Fall. Im Gegenteil. Ich bin gerade zu erleichtert, dass mein Vater weg ist. Und ich empfinde seine Verletzung als gerechte Strafe dafür, was er Zeus angetan hat und noch antun wollte!
„Dann war es wohl ein bedauernswerter Unfall", ist alles was ich kühl dazu sage und Bruce nickt zustimmend. Dann heben sich plötzlich seine Mundwinkel.
„Als ich Hera untersucht habe, ist mir noch etwas aufgefallen. Ihr Bauch ist verdächtig dick geworden. Meiner Meinung nach ist unsere Tigerdame wieder trächtig. Und die Geburt wird nicht mehr lange auf sich warten lassen."
Als ich das höre, klappt mir vor Staunen der Mund auf. Und gleichzeitig freue ich mich umso mehr darüber.
„Wirklich?! Das ist wunderschön! Aber Hera und Zeus waren doch nie zusammen eingesperrt?", sage ich ungläubig und werfe June an meiner Seite ein glückliches Lächeln zu. Die junge Schauspielerin schmunzelt nur.
„Offenbar haben sie einen Weg gefunden. Liebe lässt sich nicht einsperren", erwidert der Dompteur und wirft mir einen bedeutsamen Blick zu.
Und ich frage mich plötzlich, ob er irgendetwas ahnt...
„Naja, jedenfalls habe ich in Abstimmung mit den anderen vorübergehend das Kommando im Zirkus übernommen, solange dein Vater nicht da ist. Und die Vorstellungen habe ich bis auf weiteres ausgesetzt. Auch um auf Heras momentanen Zustand Rücksicht zu nehmen. Bist du damit einverstanden?", fragt Bruce und ich nicke zustimmend.
„Absolut. Ich werde jetzt erstmal nach Zeus sehen. Bis später!"
Und damit winke ich zum Abschied und gehe zusammen mit June die letzten Meter zu den Käfigen der Tiger hinüber.
„Das mit deinem Vater...es wäre gelogen wenn ich sagen würde, dass es mir leid tut. Aber ich hoffe, dass er nicht stirbt", sagt June sanft, als wir wieder alleine sind und nimmt dann vorsichtig meine Hand in ihre.
Ich werfe ihr nur ein kleines Lächeln zu und ziehe sie kurentschlossen in ein freistehendes Zelt hinein, wo wir das Futter für die Tiere aufbewahren.
„Weißt du was das bedeutet, June? Ich kann wieder jede Nacht bei dir sein! Und der Zirkus wird solange hier bleiben, bis mein Vater aus dem Krankenhaus entlassen wird. Bei der schwere seiner Verletzungen werden das sicherlich Wochen bis Monate sein! Und kannst mich wieder hier besuchen. June! Wir sind frei", flüstere ich und schlinge glücklich beide Arme um ihren Hals. Die schöne Schauspielerin hebt die Hand und streicht mit zärtlich eine Strähne meines Haares aus der Stirn. Ihre grünen Augen blicken tief in meine.
„Ich kann es kaum erwarten dich wieder unbeschwert tanzen zu sehen", murmelt June und dann lehnt sie sich vor und küsst mich.
Verlangend. Leidenschaftlich.
Mir wird ganz schwindelig und mein Herz rast wie verrückt, doch ich erwidere diesen Kuss nicht weniger stürmisch.
Erst als wir Dionysos laut brüllen hören, löse ich mich widerstrebend von der jungen Schauspielerin.
„Komm mit."
Ich führe June an der Hand aus dem Zelt und zu den Tigern hinüber. Als die vier mich sehen, schlagen sie aufgeregt gegen die Gitterstäbe und knurren tief.
Sofort bleibt June wie angewurzelt stehen.
„Ich-...ich kann nicht so nah", sagt sie mit dünner Stimme und ich nicke verstehend. Also gehe ich alleine zu meinen vier Freunden hinüber und begrüße jeden von ihnen liebevoll und ausgiebig. Dann öffne ich Zeus' Käfigtür und untersuche das dominate Tigermännchen behutsam.
Wie Bruce schon gesagt hatte, zieht sich ein leichter Kratzer einmal quer über seine rechte Flanke. Aber da Zeus sich dort bereitwillig berühren lässt, scheint er ihn nicht wirklich zu schmerzen.
Trotzdem wächst der Hass und die Wut auf meinen Vater immer weiter in mir.
„Er hat ihn tatsächlich geschlagen. Dieser Mistkerl", schimpfe ich wütend, als ich zu June zurückkehre. Die ältere Frau nickt verstehend.
„Du hast jeden Grund sauer auf ihn zu sein. Geht es Zeus trotzdem gut?", fragt sie mitfühlend und legt beide Hände auf meine Schultern.
Ich seufze nur tief.
„Ja. Er ist stark. Aber ich werde ihn und die anderen drei später noch einmal genauer untersuchen."
June nickt verstehend und küsst mich dann schnell auf beide Wangen.
„Dann lasse ich dich jetzt alleine. Du bist fürs erste in Sicherheit. Kommst du heute Abend zurück zu mir?"
Mein Herz hüpft bei diesen Worten einmal aufgeregt und wenn wir uns nicht mitten auf der Wiese befinden würden, würde ich June zum Abschied wohl jetzt küssen.
„Versprochen. Ich werde mich beeilen."
June lächelt nur warm und lässt mich los, bevor sie sich umdreht und langsam davon geht.
Ich schaue ihr noch eine Weile nach. Schon jetzt vermisse ich die schöne Frau an meiner Seite.
Aber ich weiß, dass ich heute Abend zu ihr zurückkehren darf. Und das lässt mich mit Feuereifer an die Arbeit gehen.

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