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„Wie geht es deiner Familie?" Ach Luca, wo soll ich beginnen? An dem Punkt, an dem ich beichte, dass die Kinder meines Bruders meine letzte Kraft auslaugen, weil ihnen ihre Mutter fehlt und ich es schwer habe, diese zu ersetzen, oder an diesem, an den ich verrate, dass meine Schwestern keine Auskunft für mich bieten, weil wir uns gewissermaßen fremd sind? Es gibt viele Ansatzpunkte, wiederum sind es so viele, dass ich nicht weiß, wo genau ich anfangen soll.

Alara und Amira sind erst vor kurzem in mein Leben getreten und trotzdem fühlt es sich so an, als wären wir uns fremd. Die Einzigen, die wirkliche Liebe und Zuneigung in mir hervorrufen, sind Zaman und Alim, die mir jeden Tag einen Grund zum Lächeln geben. Und mein Vater. Ich vermisse ihn, aber ich liebe und erwarte ihn. Vielleicht nicht heute oder morgen, aber sicher irgendwann, wenn es ihm besser geht.

Vielleicht kann ich eines Tages mit ihm sprechen, ohne dass er mich mit seiner emotionalen Erpressung verletzt. Er war da, versuchte sein Bestes und dafür danke ich ihm, denn ohne ihm wäre ich heute vermutlich ein anderer Mensch. Ob es positive oder negative Auswirkungen hätte, kann ich momentan nicht beurteilen.

„Gut", antworte ich schließlich. „Es ist alles gut wie es ist."
„Wie geht es Zaman und Alim?"
„Soweit gut. Ich find es einfach komisch, dass ihre Mutter niemals wieder dabei sein wird."
„Haben sie über ihre Mutter gesprochen?"
„Nein, ich glaube eher, dass Alim alles noch nicht ganz realisiert."
„Was meinst du?" Ich atme tief durch und stapele die Akten in den Körben aufeinander.

„Er redet mit seiner Mutter." Er sieht konsterniert vom Computer auf und deutet auf die Fragezeichen in seinem Kopf, doch bevor er seine Fragen aussprechen kann, fahre ich fort. „Ich weiß, sie ist nicht mehr da, aber irgendwie redet er mit ihr. Er tut so, als wäre sie noch hier."
„Habt ihr über eine Therapie nachgedacht?"
„Er ist noch ein Kind, Luca." In meiner Stimme schwingt Besorgnis mit, die unmöglich zu überhören ist.

Manchmal zweifele ich und frage mich, ob sein Kopf und sein Herz den Verlust seiner Mutter mitgemacht haben. Er lebt in einer anderen Welt, in der Shalia existiert und in der er existiert. Eine Welt, die es so nicht gibt. Es ist eine Welt, in der er glücklich ist, doch je mehr er hineinfällt, desto schwerer fällt es mir, ihn bei mir in der Realität zu behalten. Andererseits ist es schön, dass er seine Hoffnung nicht aufgibt und stets positiv bleibt, denn andere Gedankenzüge hat ein Kind nicht verdient. 

Ich kann ihm die scheinheilige Brille nicht abnehmen und ihm die bittere Wahrheit ins Gesicht schleudern, weil das ihm gegenüber nicht fair wäre. Ich selbst kann die Rolle seiner Mutter nicht ersetzen, aber ich versuche für ihn da zu sein wie eine Mutter. Ich versuche es und scheitere daran, denn ich schaffe es nicht einmal, für mich da zu sein, um für ihn da zu sein.

Ich räuspere mich und winke ab, um vom Thema abzulenken.
„Und bei dir? Wie geht es Pedro?" Er seufzt dramatisch, bevor er sich sofort wieder dem Tippen am Computer widmet, um so unbekümmert wie möglich zu wirken.
„Erinnere mich nicht daran. Ich habe mit ihm abgeschlossen."
„So schlimm?"
„Noch schlimmer." Ich lächele darüber und beginne die Akten alphabetisch in den Quartal zu sortieren. Ich wünschte nur, dass sich meine Kisten im Kopf genauso leicht sortieren lassen würden wie diese Akten.

Mit dem Rücken zu ihm lausche ich seiner tragischen Liebesgeschichte und muss darüber schmunzeln, weil er es so theatralisch rüberbringt, als würde sein Leben eine komplette Dramaturgie darlegen.
„Er sagt", seine Stimme verstellt sich. „es tut mir leid, Schatz, lass mich dir das erklären", äfft er und gibt einen tiefen Seufzer ab. „Ach ja, Baby? Also hast du nicht mit diesem Mann in einem Bett gelegen und seinen ..."

„Luca", mahne ich ihn mit wenig Überzeugungskraft. „Bitte, erspare mir diese Details."
„Das nervt mich einfach!" Er schlägt wütend auf die Tastatur, so dass sich einige Patienten in unsere Richtung drehen und er verlegen errötet, bevor ich mich erneut abwende und mein Lachen verkneife. Ich möchte ihn nicht in eine unangenehme Situation bringen und belasse es bei dem Punkt seiner verinnerlichten Verzweiflung. Es dauert nicht, bis jeder wieder seinen Tätigkeiten nachgeht und alleine mit seinen Gedanken ist.

MAYBEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt