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Wenn ich so recht überlege, dann fallen mir immer mehr Gründe ein, im Erdboden zu versinken, meinen Kopf auszuschalten und mich einfach schlafen zu legen. Mein ganzer Körper fühlt sich taub und gefühllos an, als gäbe es diese Empfindungen, die in mir herrschen, überhaupt nicht. Ich fühle mich überfordert und überhaupt nicht bereit, diese Welt kennenzulernen.

Ich kenne nicht einmal mich, da kenne ich erst recht nicht die Welt. Ich bemühe mich um eine ruhige Atmung und darum, die Zahlen, die ich in meinem Kopf aufzähle, in die Höhe schießen zu lassen, ohne mich durch eine Menschenseele ablenken zu lassen. Gerade bin ich bei der Zahl 849, als die dritte Nachricht, die mich mich frustriert, erklingt. Ich habe es ganz schwer, das Blutmessgerät nicht vor Wut gegen den Arm des Kindes zu werfen, bis ich fertig bin.

Als ich das Gerät an mich nehme und dem Kind ein hoffnungsvolles Lächeln zuwerfe, das so viel bedeutet wie Alles wird gut, mache ich auf Absatz kehrt und denke. Ich denke intensiv und stark und ich denke daran, welche Chance man diesen Kindern nimmt. Indem man sie mitten aus dem Leben reißt und sie erleben lassen, was sie nicht kennenlernen dürften, schmeißen sie förmlich ihr Leben weg und planen es mit Krankenhausbesuchen ein.

Da ist dann keine Zeit mehr für das Leben und keine Zeit, um die Welt kennenzulernen. Und wenn es doch dazu kommt, dass das Kind im jungen Alter verstirbt, dann hatte es nichts von alledem gehabt. Es hat das Leben nicht kennengelernt und nichts davon gesehen, weil es in den vier Wänden gefangen war, die einen deprimieren. Trotzdem muss ich zugeben, dass die krebserkrankten Kinder die glücklichsten und bescheidensten Menschen dieser nicht kennengelernten Welt sind.

Ich schließe die Tür hinter mir zu, nachdem ich das neunjährige Kind auf seine Untersuchung vorbereitet habe und laufe weiter, bis ich panisch stehenbleibe, weil ich beinahe wie in einem Klischee gegen eine Brust gelaufen wäre. Und wem gehört diese Brust? Natürlich. Wir kennen die Antwort, doch allmählich finde ich es wirklich unheimlich. Sowohl das Klischee als auch den psychotischen Stalker, der überall auftaucht, wo ich bin.
„Na?"
„Na?", frage ich fassungslos und starre ihn an, als wäre er ein Geist. Ich schüttele nur den Kopf. „Dir ist nicht zu helfen."

Nach diesen Worten drehe ich um und laufe den Flur entlang, während ich die Werte in das Blatt auf dem Klemmbrett aufschreibe.
„Ja, ich habe dein Gesicht vermisst." Er joggt zu mir und stolziert neben mir her, um den Arm um meine Schulter zu legen, den ich abgeneigt ablege. Ich kann noch immer nicht fassen, dass er hier ist, weil er mich sehen möchte und noch weniger, dass er hier ist, obwohl es eine Andere gibt.

„Ich sehe es jeden Tag."
„Nicht jeder hat dieses Privileg." Sein Duft steigt in meine Nase und vermischt sich mit dem Geruch des Krankenhauses. Es ist eine Mischung aus meiner inneren Ruhe und eine Abneigung zu diesem Ort. Die gemalten Bilder an der Wand verschönern die Wände, aber nicht den Ort.
„Es riecht hier ein wenig nach Krankenhaus." Anscheinend hat er meinen ungemütlichen Gesichtsausdruck wahrgenommen und interpretiert.
„Wow. Surprise, surprise."

Ich tippe auf den Knopf des Aufzuges und halte still, während er mich beobachtet.
„Aziza?"
„Nein."
„Das Date." Ich lasse die Augen zu ihm wandern und warne ihn augenzusammenkneifend.
„Nein." Für einen Moment dachte ich, dass er vom Verschwinden der magischen Kokain Kugeln mitbekommen hat, aber es beruhigt mich, dass er kein Wort darüber verliert. Ob er es schon bemerkt hat?

Hat er nachgeschaut? Weiß er Bescheid? Weiß er, dass ich es war? Oder will er mich nur testen? Was auch immer es ist, bereitet mir Sorgen, weil er ruhig ist. Er lächelt und strahlt, aber mittlerweile ist mir bewusst, dass er trotz Ehrlichkeit ein Lügner ist.
„Warum?"
„Du nervst." Der Fahrstuhl hält an und wir treten in diesen. Als ich in vierten Stockwerk tippe, fahren die Türen zu.

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