Epilog

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Ich hielt noch nie viel von meinem Geburtstag. Ich mochte diese Feier, die andere veranstalteten nie und auch nicht, welch eine große Nummer daraus gemacht wurde. Ich überging diesen Tag ganz grob, schlief bis zum Mittag oder ging an einen Ort, an dem ich alleine sein konnte.

Heute ist es allerdings anders. Heute schalte ich mein Handy nicht aus, um alle Geburtstagsgrüße zu ignorieren, sondern warte in meinem Bett darauf, dass ich eine ganz besondere Nachricht von einer ganz besonderen Person erhalte. Es vergehen Minuten und nichts passiert. Kurz denke ich, er hätte es vergessen, kurz denke ich, er hat zu atmen aufgehört.

Das würde zumindest dieses Ziehen in meiner Brust erklären.
„Aziza!", schreit Rana plötzlich und stürmt um Mitternacht ins Zimmer, so dass ich erschrocken zusammenzucke und meine Augen aufreiße. „Du bist jetzt 19!", brüllt sie, als wäre sie benommen, aber das ist nunmal Rana, wenn sie sich freut.

Sie verliert keine Zeit, sondern springt auf mich rauf, übersät mein Gesicht mit Küssen und kreischt in meinen Ohren, so dass sie mir schon wehtun.
„Ist ja gut." Ich schiebe ihr Gesicht weg und setze ein Lächeln auf, bevor ich mich hinsetze. „Beruhig dich mal."
„Mein Mädchen ist so erwachsen geworden." Sie legt beide Hände auf ihrem Herzen ab und verhält sich wie eine fürsorgliche Mutter. Ich werfe einen schnellen Blick auf das Handy, aber noch immer passiert nichts.

„Ich fühle mich noch immer wie elf."
„Das sind die Hormone, Schatzi."
„Hör auf, so komisch zu sein." Sie grinst, als ich belustigt den Kopf schüttele und unruhig in meine Hände klatsche. „Was ist los?", fragt sie bei meiner Ungeduld.
„Er schreibt mir nicht."
„Oh, mein Mädchen ist verliebt."

In der nächsten Sekunde überfällt sie mich mit einer Umarmung. Wäre diese nicht so stürmisch und grob, dann hätte ich sie erwidert.
„Ich bekomme keine Luft."
„Nein, nein. Wir wollen natürlich, dass du noch atmest." Ich nicke unbeeindruckt.
„Hast du etwas von Latif gehört?" Sie verdreht die Augen und meidet meinen Blick.

Wenn es eine schlechtere Lügnerinnen als mich gibt, dann ist es definitiv sie.
„Raus mit der Sprache", blaffe ich sofort und bin ganz Ohr. „Atmet er?"
„Aziza, du nervst." Sie möchte aufstehen und einen Fluchtversuch wagen, aber ich halte sie rechtzeitig davon ab.
„Was habt ihr geplant? Rana, ich sagte doch, dass ich nicht feiern möchte."

„Das ist nichts Großes. Bleib locker." Meine Hand verkrampft sich um ihr Handgelenk und meine Empfindungen beginnen wieder ein eigenes Spiel zu spielen.
„Nichts Großes heißt nichts Gutes."
„Doch, es wird dir gefallen."
„Ich will es wissen."
„Du weißt, dass ich es dir nicht sagen kann."

Unzufrieden verschenke ich die Hände ineinander und versuche, böse dreinzuschauen. Es beruhigt mich, zu wissen, dass er am Leben ist und regelmäßige Atemzüge nimmt. Ich hätte mir jedoch eine Nachricht von ihm gewünscht.
„Ist es klischeehaft?" Sie nickt hastig.
„Sowas von. Aber das ist süß."
„Was habt ihr getan, Rana?", frage ich zweifelhaft. Sie verdreht nur die Augen.

Sie entreißt sich aus meinem Griff und stellt sich auf die Beine.
„Geh schlafen, das siehst du morgen."
„Nein, was habt ihr getan?"
„Keine Ahnung. Euer Klischee zu Ende geschrieben." Mir schwirren hunderte von Ideen im Kopf herum, welche sie hätten planen können und weil ich so neugierig bin, kann ich nicht länger warten.
„Wessen Idee war das?"

„Latifs."
„Okay", murmele ich unzufrieden und mache es mir auf dem Bett bequem. „Solange er atmet, ist alles gut." Sie nickt und ist kurz davor, den Raum zu verlassen, doch hält noch ein Mal inne.
„Wenn ihr zusammenkommt, Aziza", setzt sie an und trommelt auf dem Türrahmen herum. „Dann pass bitte auf euer Herz auf."
„Ist das Liebe?" Sie schüttelt den Kopf und meldet meinen Blick.

„Liebe ist kein Klischee, denn Liebe in Klischees sind illusorische Lügen. Liebe ist so viel mehr als das." Sie kann nicht wissen, dass mich ihre Worte fester treffen als erwartet. Es ist komisch, denn irgendwie hat sie recht. „Gute Nacht, Aziza." Mir bleibt keine Möglichkeit, mich rechtfertigen zu können, als sie das Licht ausschaltet und die Tür hinter sich schließt.

Sie lässt mich im Dunkeln zurück, aber diesmal ist es anders. Diesmal sehe ich all die Menschen, die ich liebe, vor mir, wie sie strahlen und funkeln wie sie immer funkeln. Vielleicht vermissen sie mich, vielleicht erwarten sie mich, vielleicht denken sie an mich. Vielleicht stehen wir uns irgendwann gegenüber und lachen darüber, was wir in diesem Leben für Dummheiten angestellt haben.

Vielleicht endet unser Vielleicht genau jetzt. Wir beenden es in diesem Leben, um es im nächsten weiterzuführen, wo wir zusammen in die Vergangenheit blicken und glücklich darüber sind, uns kennengelernt zu haben. Vielleicht war unser Vielleicht nur ein falscher Zeitpunkt.

Und jetzt stellt sich die Frage, warum ich mit diesem Vielleicht genau jetzt abschließe. Weil ich in dieser Nacht den Anruf von Ayman um 5:36 Uhr erhielt, dass Latif zu atmen aufgehört hat.

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