5

758 31 70
                                    

Es ist mittlerweile eine Woche her, dass ich Rana das letzte Mal begegnet bin, aber es ist nicht das letzte Mal gewesen, dass ich Rami und meine Mutter streiten hörte. Hauptsächlich ging es darum, dass meine Existenz bis vor zwei Jahren vor ihm verschweigen blieb, als ich noch kein Teil dieser Familiengemeinschaft war, wodurch er mich, jedes Mal, wenn wir uns begegnen, so ansieht, als wäre ich eine Fremde. Wiederum ist es ihm nicht zu verübeln.

Ich versuche mich krampfhaft auf meine Nudeln zu konzentrieren, doch ständig, wenn die Nudeln vor meinem Mund halten, zucke ich durch den Krach zusammen und könnte deswegen hunderte von Gründe aufzählen, nie wieder mit ihnen an einem Tisch zu sitzen. Grund Nummer 87: Ich kann die Nudeln, die ich ohnehin nicht mag, nicht genießen.
„Wohin soll das führen?", höre ich meine Mutter schreien. „Was soll das? Was kann ich denn dafür?"
„Es ist deine Schuld!" Ich sehe Geschirr zerspringen und wutverzerrte Gesichter, wohingegen mein eigenes ganz emotionslos verharrt.

„Ich versuche eine gute Mutter zu sein!"
„Eine gute Mutter lässt ihr Kind nicht bei einem labilen Mann!" Komm schon, Rami. Du machst das großartig!
„Ich", setzt sie schluchzend und völlig verzweifelt an. „Es tut mir leid."
„Es tut dir leid?" Er schnaubt und fegt das Besteck vom Tisch, so dass ich wieder zusammenzucke. „Das fällt dir aber früh ein."

„Und was soll ich deiner Meinung nach tun?"
„Nicht lügen. Nicht mehr lügen!" Ich kann ihn besser verstehen als er denkt. Ich habe mir auch gewünscht, sie wäre in meiner schwersten Zeit bei mir gewesen. Würde mein Mann irgendwann mit einer verschollenen Tochter auftauchen, wüsste ich nicht, ob ich so beherrscht reagieren würde. Sicher, er ist wutverzerrt und vor Traurigkeit blind, aber er atmet.

Ich schätze jeden Atemzug, den er macht und bewundere diese. Am liebsten würde ich ihm sagen, dass es sich nicht mit meiner Mutter zu diskutieren lohnt, doch ich weiß, dass einem die Wahrheit manchmal bitter ins Gesicht geschlagen werden muss, um sie einzusehen.
„Rami", flüstert sie, während die Tränen über ihre Wangen kullern. Sie weint, er ist wütend und ich? Ich nehme die Nachricht auf meinem Handy wahr und stehe auf.

Es ist ein einfaches Prinzip und mit wenig Arbeit verbunden. Ich lasse beide in der Küche sitzen, bevor ich in den Flur flitze, um meine schwarzen Nike Jordans anzuziehen, vermeide dabei jedoch jeglichen Blick in den Spiegel. Ich weiß nicht, wo Alara und Amira sind und ich weiß nicht wirklich, wo ich bin, aber ich weiß, dass ich hier weg muss. Ich nehme noch immer Schreie wahr, die meine Schwestern vermutlich kreischen und weinen lassen, aber ich weiß nicht, was ich machen soll.

Ich kenne diese Mädchen nicht und vor allem kenne ich nicht einmal mich. Ich schütze mich vor den bitteren Wahrheiten, wiederum beruhige ich mein Gewissen mit dem Wissen, dass sich, sobald ich diese Wohnung verlasse, die bittere Wahrheit erträglicher wird. Also tue ich genau das und verlasse nicht nur die Wohnung, sondern auch den ganzen Wohnkomplex, bis ich vor der Eingangstür auf ein Auto stoße, das mich erwartet. Ein Auto und eine gemeinsame Geschichte und mein Herz beginnt gleich wieder zu schlagen.

Ich steige und atme den Duft kryptisch ein, um den vermissten Geruch zu intensivieren und mich zu entspannen.
„Hast du nicht mehr geatmet?", fragt Salim belustigt, ehe er losfährt und ich die Augen aufschlage.
„Nein."
„Warum?"
„Denk logisch und du kommst von selbst auf deine Antwort."

Ich drehe mich zum Rücksitz und finde zwei kleine Kinder sitzen. Zwei Kinder und mein Herz schlägt wie wild in meiner Brust. Während mich Zaman mit ihren eisblauen Augen ihrer Mutter anlächelt, schläft Alim so seelenruhig, als würde er neben Shalia schlafen und ihren Herzschlägen lauschen. Meine Muskeln entspannen sich mit jeder Sekunde, in der ich Zaman zärtlich anlächele. Ich unterdrücke nur stark das Bedürfnis, sie in meine Arme zu zerren und sie vor Sehnsucht zu drücken.

MAYBEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt