31

268 25 48
                                    

Als ich meine Augen aufschlage, liegt eine unerklärliche Schwere auf meinen Schultern. Mein Nacken fühlt sich verspannt und meine Augenlidern vertrocknet an. Für eine Sekunde bin ich froh darüber, dass es nur ein Albtraum war und es mir bestens geht, aber es ist nicht die Wahrheit.

Vielleicht bin ich unbeschädigt und nach allem noch am Leben, aber es ändern nichts an dem Fakt, dass ich seit drei aufeinanderliegenden Tagen dieses Krankenhaus nicht verließ. Ich dehne ein Mal meinen Rücken durch und massiere meinen Nacken, bevor ich durch den Warteraum linse und die restlichen Angehörigen von Latif in Betracht ziehe.

Bis jetzt habe ich mich nicht getraut, über den Vorfall zu sprechen, denn es hat mich zu sehr mitgenommen. Ich habe es grob geschafft, mich bei seiner Familie zu entschuldigen und nicht in Tränen aufzubrechen, aber ich kann nicht verhindern, dass ich wie benommen auf die vierköpfige Familie starre und warte bis ein Lebenszeichen erfolgt. Die Lage? Kritisch.

Nicht nur die trauernde Familie sitzt hier, sondern auch Ayman, Rana, Aisha, Halim und die restlichen Jungen, die sich seine Freunde nennen. Sie sitzen abseits von mir, weil ich Abstand zu Außenstehenden brauche. Ich muss zurechtkommen, aber die einzige Stütze, die ich durch diese Krisensituation bekomme, ist ausnahmsweise meine Gedankenwelt. Und dann? Dann ist es still.

Der gesamte Raum ist von uns besetzt. Außer der unangenehmen Stille, die nun herrscht, ertönt kein Wort. Seine Familie sieht aus wie er, vor allem seinen beiden Brüder. Der ältere der beiden Jungen sieht ihm wie vom Gesicht geschnitten aus: sei es das markante Gesicht oder die gerade Nase. Nur die Augen ... die Augen machen den Unterschied.

Aisha erhebt sich urplötzlich, so dass ich mein Gesicht von meiner Hand stütze und erwartungsvoll dreinsehe. Es ist ein wirkliches Wunder, wenn auch nur eine Bewegung geschieht, wodurch alle Augen sofort hinschauen. Als ich merke wie sie sich nur streckt, nehme ich meine alte Haltung ein und auch alles andere beruhigt sich. Ich beobachte ihre blonden Haare und die grünen Augen ihrer.

Plötzlich strebt sie den Weg zu mir an. Links und rechts ist jeweils mein Platz frei, weil ich jeden abstieß, aber sie kommt rüber und stellt sich genau vor mich. Ich mache mir allerdings nicht die Mühe, sie anzusehen.
„Ich setze mich mal." Sie wartet nicht ab, sondern setzt sich links neben mich. Ansonsten wird es wieder ruhig. Keine Ahnung, ob die Gedanken der Anwesenden, die hier herumschwirren dazu zählen, aber das ist die einzige zwischenmenschliche Kommunikation in diesem Raum. Ayman hat sich weiter weg, statt zu Rana gesetzt, die gleich neben Halim sitzt. Und er? Er achtet darauf, dass ich atme.

Keine Ahnung warum, aber er sieht rüber und achtet auf jeden Atemzug, den ich exakt alle drei Minuten zu mir nehme.
„Ist alles in Ordnung?", fragt Aisha plötzlich leise und reißt mich aus meinen Gedanken. Ich bin ein wenig schockiert über diese irrelevante Frage, doch schenke ihr dennoch einen kleinen Blick.
„Soweit schon. Bei dir?"

„Jap." Was erwidert man auf ein Jap? Was erwidert man überhaupt auf eine solche Situation? Erwidert man etwas? „Glaubst du, er wacht auf?" Als diese Frage ihre Lippen verlässt und sie in die Ferne starrt, versetzt es mir einen Schlag direkt in die Magengrube. Vielleicht sehen es die anderen nicht, aber ich sehe, was sie nicht sehen. Ich sehe Fürsorge und Angst und so, so, so unglaublich viel Liebe. Hass auch, aber dieser ist nur da, um diese Liebe zu überbrücken.

„Ja", antworte ich sofort selbstsicher. „Wird er."
„Woher willst du das wissen?" Sie sieht mich noch immer nicht an, aber trotzdem behalte ich sie im Blickfeld. Ich lächele und diesmal. Diesmal ist es ehrlich. Es ist ein typisches Latif-Lächeln mit dem Funkeln und dem Strahlen drum und dran.
„Sagen wir mal, dass ich eine Abmachung habe."

„Es ist nicht der Zeitpunkt für Späße."
„Ich weiß. Er wird aufwachen." Das Universum und ich sollen doch nur ein Mal derselben Meinung sein. Bitte, Weck mich auf aus diesem Albtraum, lieber Gott. Sie schluckt schwer, bevor sie ihre beiden Hände in die Armlehnen des Stuhls krallt und sich mehr in den ungemütlichen Stuhl verkriecht.

MAYBEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt