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Ich kann nicht erklären, warum mir so schwindelig ist oder warum ich kurz davor bin, mich übergeben zu müssen. Es kann daran liegen, dass ich meinem Wohnblock immer näher komme, es könnte aber auch daran liegen, dass ich in den letzten Tagen nichts gegessen habe. Wiederum könnte es daran liegen, dass ich nicht schlief oder daran, dass ich nicht atme.

Aber sicher liegen es an eines dieser Dinge - das rede ich mir zumindest ständig ein. Der Gedanke daran vor meine Familie zu treten, die mir eigentlich völlig fremd ist, lässt mich in Grund und Boden nieder und dass niemand da ist, der mich vor dieser Hölle zu retten weiß, macht all das realistischer. Jeder Schritt, dem ich diesem Gebäude nähertrete, macht das Unbehagen größer und jeder Schritt, dem ich dem Gebäude nähertrete, macht alles realer.

Schließlich öffne ich die Eingangstür, halte tief die Luft ein und trete hinein. Das war es dann auch schon wieder. Es hört sich viel harmloser an als es ist, doch es ist jedes Mal eine enorme Last, diesen Schlüssel in das Zündloch zu stecken. Es ist jedes Mal eine Last, die Treppen aufzusteigen und an der Tür zu klopfen. Jedes Mal diese Gesichter zu sehen. Das sind Lasten, die mich quälen.

Aber ich quäle mich und steige Stufe für Stufe und beachte dabei, jede einzelne mitzuzählen. Na ja, bis mir eben weiße sneaker in die Quere kommen und nicht auf wundersamen Weise zu schwinden versuchen. Ich blicke wirr auf und ziehe schockiert die Luft ein. So schnell kann es gehen und lässt die Zeit stehenbleiben. Er geht nicht und ich gehe nicht und er starrt mich an und ich starre ihn an.

Und auch das hört sich harmloser an als es ist. Ich weiß nicht einmal, warum ich plötzlich so sensibel reagiere und am liebsten heulend zu Boden gefallen wäre, um zu sterben. Es fällt mir so verdammt schwer, einen Atemzug nach dem anderen zu schnappen und dabei in diese Schwärze zu sehen.

„Warum?", frage ich die Frage, die mein Leben definieren würde. Er ist wirklich hier mit seiner Mütze und der Kapuze und allem Drum und Dran. Er steht mit den Händen in den Taschen wippend da und lächelt wie er immer lächelt.
„Sag du es mir." Wie denn? Was erwartet er von mir? Wie soll ich mir die Frage beantworten, wenn ich mich jeden Morgen mit dieser quäle?

Das Problem liegt dabei, dass ich mich plötzlich so schwach und verletzlich anfühle. Es gibt nicht einmal einen triftigen Grund dafür, aber wirklich jedes Wort, das meine Lippen verlässt, beansprucht mich wie noch nie. Ich hätte ihn am liebsten vor inneren Verzweiflung angeschrien und gesagt, dass er abhauen soll, aber ich kann nicht. Ich bin so müde vom Leben, dass ich es verdammt nochmal nicht kann.

Er steht genau zwei Treppenstufen über mir, so dass ich den Kopf noch mehr in den Nacken legen muss und ihn dabei ansehe, um zu erahnen was er möchte.
„Wo warst du?" Es sind erstaunlicherweise meine Worte, über die selbst er verwundert scheint.
„Fitness. Sagte ich doch."
„Sagtest du vor einer Woche."
„Tja." Er lächelt ehrlich. Ich glaube diesem Lächeln irgendwie.

Vielleicht nicht, weil ich davon überzeugt bin, aber vielleicht darum, weil ich auch lächeln will. Ich will ehrlich lächeln.
„Ja und dann habe ich dich vermisst."
„Vermisst?"
„Ja, Aziza. Du wirst vermisst. Ob du es glaubst oder nicht." Mein ganzer Körper fühlt sich so schwer an als sich würden Gewichte auf diesem befinden, die ich nicht tragen kann.

Am liebsten hätte ich ihn dafür in die Hölle geschickt, ihn verflucht und auf ihn eingeschlagen, aber ich kann nichts tun, als bei dieser unnötigen Aussage, zu schnauben und eine Treppe, die uns trennt, aufzusteigen.
„Ich möchte weitergehen."
„Ich dachte, du hättest mich auch vermisst", spielt er enttäuscht und neigt den Kopf zur Seite.

„Nicht unbedingt."
„Schade. Ich habe dich mit jeder Sekunde vermisst."
„Hör auf, Latif. Das ist nicht witzig." Vielleicht ein wenig schon, aber wenn ich nicht ernst bleibe, dann nimmt er mich auch nicht ernst. Aber allmählich begreife ich, dass er mich ohnehin nicht ernst nimmt.
„Wer sagt denn, dass ich Witze mache?"
„Bist du es nicht mittlerweile leid?" So langsam holt mich die bittere Realität ein, in der er er ist und ich ich bin. Es tut mir leid, dass ich so impulsiv reagiere, aber würde er verstehen, dass ich nicht mehr kann?

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