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„War ich echt so nervig?", fragt Latif mit einem Lächeln, als er sich auf die Bettkante des Krankenzimmers setzt. Ich lache nur herzhaft und so locker wie noch nie, bevor ich ihm seine Krücken reiche, die ihn stützen.
„Ja, du hast so viel geredet, dass es nie ruhig war. Einmal hatte dir Rana sogar beinahe die Mütze abgeschnitten, weil du sie überall getragen hast."

Er fährt sich über das dünne Haar und macht ein grüblerisches Gesicht.
„Wo ist meine Mütze?"
„Du hast gerade keine da."
„Ich will meine Mütze." Zumindest hat er diese Angewohnheit nicht verloren und steht dazu. Sehr oft haben Krebskranke ein Problem mit ihren nicht vorhandenen Behaarung, was vor allem die jüngeren Kinder betrifft. Sie wollen sich nicht der Welt zeigen, weil sie der Meinung sind, nicht normal zu sein, aber sie sind wunderschön wie sie sind und normal genug.

„Komm und heul mir nicht um die Ohren." Ich deute auf die Tür, doch er bleibt bockig stehen und sieht unbeeindruckt drein. „Du hast keine Mütze."
„Ich gehe so nirgends hin." Zu sagen, dass er einfach mitkommen soll, ist einfacher gesagt als getan. Jedes Mal, wenn so ein Fall auftritt und die Patienten sich unwohl in der eigenen Haut fühlen, dann bin ich da, um ein Stück Papier zu einer Krone zu basteln und sie ihnen auf den Kopf zu legen, doch ich glaube, dass Latif dafür zu alt ist.

„Latif, mach schon."
„Nein, vergiss es." Oder vielleicht ist er doch nicht zu alt. Ich stöhne frustriert, bevor ich mir Latif mit solch einer Krone vorstelle und leise kichere. „Was hast du vor, Youssef?"
„Woher kennst du meinen Nachnamen?", frage ich belustigt und laufe auf die Kommode zu. Ich übergehen ihn und greife in der nächsten Sekunde nach zwei Blättern, die ich mit Tesafilm zu einem Kreis zusammenklebe.

„Ich habe gehört, wie dich der Doktor gerufen hat."
„Stalker."
„Arbeitest du hier?"
„Ich mache meine Ausbildung."
„Und was mache ich?" Mein Lächeln verblasst, als ich beginne, Zacken auf der Krone einzuschneiden. Tatsächlich ist mir das nicht wirklich bewusst, aber so weit ich es beurteilen kann, haben auch Krebskranke eine potentielle Schulpflicht.

„Ich weiß es nicht. Du hast zwar gesagt, dass du ein Jahr Pause nimmst, aber da dachte ich, dass du den Weg als Dealer einschlugst."
„Tat ich es nicht?"
„Anscheinend nicht", murmele ich und sehe zufrieden auf meine Kreation. „Lass uns einfach das Thema wechseln."
„Nein", beteuert er augenzusammenkneifend.
„Doch."

Ich drehe mich zu ihm und bemerke den Größenunterschied zwischen uns, der mir aufgrund unserer plötzlichen Nähe bewusst wird, aber selbst der macht mir aktuell nichts aus, als ich ihm die Krone aufsetze.
„Jetzt bist du ein König." Er schafft es, seine Mundwinkel zu verbiegen und mich mit dem Lächeln und allem Drum und Dran anzusehen.
„Dein Ernst?"
„Ja, jetzt komm."
„Hast du ernsthaft eine Krone hergestellt?"

„Entweder diese Krone oder deine halbe glatze, Mein Freund." Er spielt mit der Zunge in seiner Mundhöhle herum, bevor er sie mir herausstreckt und kerzengerade an mir vorbeiläuft. Ich bewundere jedes Mal diese Stärke, mit der er in die Welt tritt und jeden Schritt fortsetzt, als würde ihm die Welt gehören.
„Komm jetzt", reißt er mich aus meinen Gedanken und wartet außerhalb der Tür auf mich. Ich folge ihm zögernd und schließe diese.

„Aziza?"
„Ja?"
„Wie alt bin ich?"
„19."
„Ah", murmelt er unbeeindruckt. „Und du?"
„18."
„Und wann werden wir älter?"
„Latif, du wirst immer jünger."

Es laufen Menschen an uns vorbei. Menschen mit denselben Probleme und denselben Krankenheiten. Krebskranke, die stahlen und lächeln und funkeln, wie es nur Kranke können. Sie gucken Latif an, Latif guckt zurück und Latif lächeln, denn Latif lächelt immer.
„Aber am 16. Oktober ist dein Geburtstag."
„Und deiner?"
„Am 29. April."

Ich schaffe es nur gezwungen, seinem Blick auszuweichen und unbekümmert wie möglich mit den Schultern zu zucken. Geburtstage anderer waren halb so schlimm wie mein eigener.
„Und wie war ich vor dem Unfall?" Wir streben gemeinsam die Infusionsstation an. Ich kann dadurch nicht verhindern, dass mir wieder flau im Magen wird, aber dadurch, dass Latif unglaublich langsam läuft und Zeit braucht, zieht sich die Begegnung mit der Chemotherapie in die Länge.

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