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Ich bin gerade dabei, die Backsteine auf dem Boden durchzuzählen, damit ich mich nicht weiter darüber aufrege, dass es Rana nicht hinbekommt, mir ihren Schlüssel zu hinterlassen. Eigentlich habe ich ihr Bescheid gegeben, dass ich heute vorbeikommen würde - na ja, nicht wirklich -, womit die Sache eigentlich geklärt und abgehakt wäre. Na gut, normalerweise liegt der Schlüssel unter der Bodenmatte und ist für mich demnach frei zugänglich, nur heute ist er nicht da.

Also beschloss ich mich ganz einfach, raus in die Kälte zu gehen und darauf zu warten dass sie vorbeikommt. Mittlerweile zähle ich den 374. Stein durch, während ich gleichzeitig vor Kälte schwitze. Ja, das gibt es auch. Sie ist bei der Arbeit und müsste bald hier sein, denke ich. Das rede ich mir zumindest ein, damit ich nicht die Fassung verliere. Ich weiß natürlich, dass sie erst später Schluss hat und ich mich hier zum Affen mache, aber sich selbst zu belügen, ist einfacher, als der Wahrheit ins Auge zu sehen.

„Es ist kalt. Wieso gehst du nicht hoch?", erklingt es plötzlich. Mein Kopf nimmt diese Stimme auf und ... beruhigt sich. Ich weiß nicht, warum, aber Ayman hatte die ganze Zeit über eine beruhigende Wirkung auf mich. Klar, er handelt nicht immer gerecht und rational, es ihm jedoch hundertprozentig verübeln, kann ich nicht. Ich hebe meinen Blick von der Nummer 398 und vergrabe die Hände tiefer in meiner Jackentasche.
„Hey", antworte ich mit einem nüchternen Lächeln. Ich kann mir schon vorstellen, wie rot meine Nase vor Kälte geworden ist. „Ich bin vorbeigekommen, aber Rana ist nicht Zuhause."

„Hast du keinen Schlüssel?" Er tritt vor und schließt die letzten Meter zwischen uns.
„Sie hat ihn mir nicht hinterlassen."
„Wäre es dann komisch, wenn ich dir anbiete, mitzukommen?" Er lächelt ehrlich, was ihm mehr als nur steht. Ich bin der Meinung, dass dieser Junge öfter lächeln und öfter da sein sollte. Er sollte einfach er sein und das in jeder Hinsicht.
„Sie kommt sicher gleich", winke ich ab, doch er verdreht nur die Augen.

„Du siehst aus wie dieses Rentier aus den Weihnachtsfilmen. Dieses mit der roten Nase."
„Meinst du Rudolf?"
„Hieß es nicht Adolf?" Ich kann nicht anders, als über seine Stumpfheit zu lachen. Mein Inneres nimmt ein wenig Wärme auf und meine Muskeln lockern sich. Er erwidert mein Lachen mit einem schmalen Lächeln. Er wirkt nicht wie ein Mensch, der gerne Witze reißt und in der Gruppe lacht. Viel mehr so, als würde er nicht verstehen, was so witzig sein sollte, weil er es verdammt ernst meint.

„Wow."
„Ja, wow. Ich habe sowas nie geguckt." Mein Herz macht einen Satz. Er wirkt verloren, ein wenig enttäuscht und unschlüssig. Ein wenig von allem. Ich fühle mich ein wenig verloren, ein wenig enttäuscht und unschlüssig. Ich sehe ihm alles an, obwohl er es zu verbergen versucht. Seine Augen sind leicht gerötet und seine Haut erstaunlich blass. Und dann? Dann möchte ich ihn einfach berühren, dafür, dass er die körperliche Wärme niemals erfuhr.

„Darf ich dich umarmen?" Er sieht verwirrter aus als er ohnehin schon ist. Normalerweise bringe ich solche Fragen nicht über die Lippen, weil ich zu introvertiert für so etwas und ziemlich menschenscheu bin, aber bei ihm ist es ein wenig anders. Ich weiß, dass er so etwas nötig hat, weil ich so etwas nötig habe. Als keine wirkliche Erwiderung, sondern nur ein verkrampftes Kopfnicken zu Stande kommt, handele ich instinktiv und begebe mich in seine Arme. Ich weiß nicht wirklich, wen ich mit dieser Umarmung zu trösten versuche, aber ich weiß, dass wir sie beide bitter nötig haben. Zwei Seelen ohne Anhaltspunkt. Irgendwie fühlt es sich so an, als würde jeder Welt weiterdrehen, nur wir stehen an einem Punkt, an dem alles stillsteht.

Er erwidert die Umarmung nach einigen Sekunde und das vielleicht stärker als ihm bewusst ist. Er weiß nicht, wie nötig ich sie habe und wie sehr sich mein Herz bei dieser Umarmung erwärmt. Er glaubt, ich tröste ihn, dabei tröste ich mich nur selbst. „Kommst du mit hoch?", fragt er so leise, als würde er mich nicht verschrecken wollen. Irgendwie glaube ich wirklich, genau hier und jetzt bei seiner angenehmen Stimme und dieser Umarmung einschlafen zu können.
„Ja."

MAYBEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt