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Weil irgendwann der Zeitpunkt kommen muss, an dem ich mich meiner Familie stelle, sitze ich am nächsten Tag bei meiner Mutter, statt bei Latif, der in dieser Minute entlassen wird und halte die Luft seit zwei Minuten an, um aus dem Moment zu flüchten.

„Ich checke es nicht", sagt mein Bruder, der ausnahmsweise zu uns getreten ist. Normalerweise würde er nicht hier sitzen, weil er noch immer nicht viel von unserer Mutter hält, aber zur Liebe seiner kleinen Schwester tut er das nunmal. „Also er kannte Shalia?"
„Ja, er erinnert sich an sie."
„An meine Frau?", fragt er abgeneigt, so dass ich nur die Augen verdrehe.
„Er war nicht in sie verliebt. Sie war wie eine große Schwester."

Kurz glaube ich, dass er es begriffen hat, bis er wieder verständnislos den Kopf schüttelt.
„Warum weiß ich nichts davon?"
„Keine Ahnung, wusste ich auch nicht."
„Und er erinnert sie nur an sie?"
„Und lückenhaft an mich, aber das auch nur wegen Shalia."
„Wie jetzt?" Warum kann es nicht wie in allen Klischees ablaufen und zugeben, es verstanden zu haben?

„Shalia hat von uns erzählt", erkläre ich und knete meine Finger, bevor ich den Blick senke. „Also sie hat Geschichten erzählt. Und sie hat ihm Bilder von uns gezeigt, deswegen war er mir von Anfang an vertraut. Er kannte mich." Er sieht skeptisch drein und möchte gerade unzufrieden zum Sprechen ansetzen, als er von meiner Mutter, die mit verschränkten Armen neben mir sitzt, unterbrochen wird.
„Bist du die letzten Tage bei ihm geblieben?" Ich schlucke schwer und nicke verkrampft.

Eigentlich möchte ich ihnen nicht von Latif erzählen, damit sie nicht glauben, ich hätte hinter ihrem Rücken etwas mit ihm am Laufen, aber das ist Latif und seine Geschichte ist es wert, erzählt zu werden.
„Ja, er wollte, dass ich dort bleibe." Meine Mutter lächelt blitzartig und ich könnte schwören, dass sie sich einen Freudentanz verkneift.
„Wann lerne ich ihn kennen?"

„Ey, Salwa, mach mal halblang", mischt sich mein Bruder wieder dazu. „Hier lernt keiner irgendwen kennen." Mittlerweile hat es Salim darauf abgesehen, sie mit allem zu provozieren, was in seiner Macht steht.
„Was? Wieso?"
„Du warst jahrelang nicht da. Ich glaube, ich übernehme die Rolle der fürsorglichen Mutter."
„Salim", warne ich bei seiner Nachtrage.

Ich bin auch nicht zufrieden mit der Situation, die sich mit ihr ergibt, aber er ist anders und nutzt jede Chance, um meiner Mutter zu beweisen, welch ein Chaos sie damals angestiftet hat. Sie verstummt sofort und das Lächeln verblasst.
„Stimmt, aber ich bin immer noch ihre Mutter."
„Nein, irgendwie nicht."
„Salim", mahne ich strenger und werfe ihm einen vielsagendem Blick zu, den er nur mit einem Augenrollen kommentiert.

Und dann? Dann ist es unangenehm still, so dass ich mich räuspere und Latif meine einzige Auskunft darstellt.
„Wir sind kein Paar, wenn ihr das glaubt. Nur Freunde - von Anfang an."
„Freunde?", fragt meine Mutter ungläubig und schnaubt.
„Ja, Freunde", keife ich. „Oder glaubst du, dass ich lüge?"
„Nein, nein. Alles gut, aber es sah die letzten Tage nicht nach Freunde aus."

„Dann mach die Augen auf, Mutter." Ich kann nicht verhindern, dass sich Salims Verhalten langsam auf mich abfärbt. Als mein Handy klingelt und mir Ayman Bescheid gibt, dass er Latif zu sich nach Hause gebracht hat, vergesse ich alles. Also, dass ich hier bin mit Salim und meiner Mutter. Ich denke nicht nach, sondern handele, wie ich es möchte, indem ich aufstehe und gehen möchte.
„Wohin gehst du?", fragt Slaim und steht ebenfalls auf.

Ich lächele ihn an wie ich meinen Bruder immer anlächele, weil ... ich ihn vermisst habe. Ich vermisse ihn noch immer, obwohl er genau vor mir steht und mich mit seinen braunen Augen entschärft ansieht.
„Zu Rana. Fährst du mich?" Ich könnte es auch alleine schaffen, aber gerade brauche ich ihn. Ich brauche keine Mutter und auch keinen Vater, nein, ich brauche Salim Youssef.

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