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Ich habe die gesamte Nacht nicht schlafen können - wie die letzten Jahre auch -, jedoch mit dem Unterschied, dass diese Nacht mit ganz viel Tränen verbunden war. Normalerweise weine ich nicht, weil meine Gefühle so unübersichtlich sind, aber heute sind sie so unübersichtlich, dass ich verzweifelt genug bin, um die ganze Nacht zu weinen.

Ich sollte auf dem Sofa schlafen, sollte neben ihm schlafen, sollte wenigstens schlafen, aber ich sitze wie zuvor schon auf dem Bett und weine mir die Seele aus dem Leib. Mittlerweile ist es 07:00 Uhr morgens und ich habe ihn schon das Frühstück besorgt. Das Essen von der Cafeteria war mir zu unappetitlich. Aus dem Grund bin in die nächste Bäckerei gegangen, um ihn zwei belegte Brötchen und eine Capri Sonne, die ich oftmals bei ihm auffand, gekauft.

Ich rüttele vorsichtig an seinem Bein, als ich meine Tränen fortgewischt habe und stelle das Tablett, das ich aus der Cafeteria habe, auf meinem Schoß ab. Während er schläft, sieht er mehr als nur entspannt aus. Ich begreife nicht ganz, wünsch bis jetzt nicht habe merken können. Sollte ich es nicht gemerkt haben, nach all den krebskranken Patienten, denen ich begegnete?

Selbst nach Shalia? Hätte ich dieses ehrliche Lächeln nicht wieder erkennen sollen? Hätte ich es nicht vor allen anderen begreifen sollen? Ich bin nicht nur wütend auf mich, sondern auch auf Ayman und auf Latif und auf Halim, denn genau sie hätten es mir sagen müssen, als ich es nicht gewusst habe. Warum haben sie nicht auch nur ein Wort darüber verloren? Warum sagten sie nichts?

Ich nehme ein leises Grummeln wahr, das ich als Anzeichen seiner Existenz hinnehme. Es ist anders, alles ist plötzlich so anders. Die aufgeplatzte Beule auf seinem Kopf ist durch einen Verband versteckt. Gerade sogar fällt mir die Lücke an Haaren auf seinem Hinterkopf auf. Sie ist groß und unbeehaart, doch sieht nicht so aus, als wäre sie durch den Unfall entstanden.

Ich versuche, zu realisieren, dass er Mützen aus genau diesen Punkt trägt. Wahrscheinlich hatte er aus dem Grund kein Problem damit, seine Mütze auszuziehen - ich habe seinen Hinterkopf nicht sehen können.
„Ich habe dir etwas zu essen gebracht." Er sieht rüber und reibt sich seine großen Augen.
„Aziza?" Kurz hoffe ich, er würde sich an mich erinnern und mir verraten, dass all das nur ein blöder Scherz sei, aber seine Augen funkeln einfach nicht.

„Ja", ich strecke ihm das Essen hin. „zwei belegte Brötchen und eine Capri Sonne." Er sieht konfus drein, bevor ich ihm helfe, sich richtig hinzusetzen. Es ist so schwer, ihn in dieser Verfassung aufzufinden. Seinen Armen geht es gut und soweit ich es beurteilen kann, allem anderen an ihm auch. Nur bin ich mir unschlüssig, ob es ihm wirklich gut geht, weil ich seine Trauer die Male zuvor auch nicht bemerkte.
„Danke."

Ich hätte ein unwitzigen Spruch erwartet oder eine Anmerkung, die diese Situation lockert, aber nope. Es kommt nichts von ihm, als ich das Kissen zwischen seinem Rücken und der Bettlehne klemme und er zu essen beginnt. Es sind schwere Bissen, nicht viel und ganz klein, während er nachdenklich hin und her schaukelt.
„Wann darf ich nach Hause?"
„Ich weiß nicht. Der Arzt kommt gleich, um dich zu untersuchen."
„Mir geht es gut."

„Komisch, das hast du auch vor dem Unfall gesagt, aber wie es scheint, ist alles gelogen."
„Warum habe ich gelogen?"
„Das müsste ich dich fragen, Abdel Latif." Ich hocke mich an seinem Bett und verschränke die Arme auf der Matratze, um mein Kinn darauf abzulagern. Mit dem Bissen zum Mund hält er an und wirft mir einen kurzen Blick zu.
„Ich weiß es nicht."
„Du hast mir nichts vom Krebs erzählt."

Es auszusprechen, tut viel mehr weh als ich erwartet hätte. Es ist, als würde ich erst jetzt alles erneut realisieren. Ich realisiere es nicht einmal, bis ich über meine Augen reibe, um meine Tränen, die sich ansammeln, zu verscheuchen. „Du nahmst Drogen, obwohl du krank bist", heische ich verständnisloser. „Warum bist du so egoistisch?", schreie ich plötzlich. Ich bin überfordert und mit all meinen Nerven am Ende. Der Schlaf rückt in den Hintergrund und meine Sicht verschwimmt allmählich.

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