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Wie wird mein Vater reagieren, wenn ich plötzlich vor seiner Tür stehe? Wenn ich mich plötzlich wieder melde? Was wird er sagen? Wird er überhaupt etwas sagen? Wird er mich anbrüllen? Wird er mich in seine Arme ziehen? Wird er mir verzeihen? Wie schaue ich ihm nach allem noch ins Gesicht? Warum tue ich das? Was veranlagt Salim und mich dazu? Kann ich nicht doch lieber mit Rami und sein Familie essen gehen? Kann ich nicht zu Ayman?

Es sind nur ein Bruchteil all der Fragen, die in meinem Kopf herumschwirren. Es ist nicht einmal die Hälfte oder nur ein kleiner Ansatz, nein. Das richtige Labyrinth beginnt in meinen Herzen, was der Grund dafür ist, dass ich dieses aufgrund des Chaos' für funktionsuntüchtig halte. Ich traue mich nicht tiefer in meinem Herzen zu graben und versuche es in diesem Moment indem zu beruhigen, dass ich meinen langen Rollkragenpullover zurechtrücke und einmal tief durchatme. Ich starre durch den Spiegel und erkenne mich selbst irgendwie kaum wieder, weil da erneut dieser ganz kleine Funken Hoffnung ist, der meint, dass alles wieder gut wird.

Ich bin mir sicher, dass nichts gut wird, aber mir das ständig einzureden, macht mich selbstsicherer. Ein letztes Mal ziehe ich meinen Zopf fest und beschmiere meine Lippen mit Lipgloss. Mein Inneres schreit nach der Erlösung meiner Seele und möchte sich am liebsten verkriechen, aber ein anderer Teil weiß genauestens, dass ich dieses Silvester hinter mich bringen muss. Es sind Monate her, dass ich etwas von ihm hörte und mich bei ihm meldete.

Die Tür wird aufgerissen, bis Rami innehaltend an dem Türrahmen steht.
„Gehst du jetzt schon?", fragt er verblüfft.
„Ja. Salim bringt gerade Zaman und Ali zu Shalias Eltern."
„Ich dachte, du könntest vielleicht doch mitkommen, bevor du losgehst."
„Etwas essen?"
„Ja."

Tatsächlich verwundert mich das Angebot mehr als es sollte. Eine kleine Wärme legt sich unter meine Muskeln, so dass ich mich ein wenig entspanne und mein Lächeln nicht mehr so verkrampft wirkt.
„Ich muss wirklich los. Danke dir, Rami."
„Nichts zu danken." Ich schüttele nur den Kopf und ziehe mir die dicke Jacke über.
„Doch. Du fragst, wenn nicht einmal meine Mutter fragt. Danke, Rami." Er stockt für eine Minute und starrt mir so an, als könnte er nicht begreifen, was ich sage.

Rami und ich hatten nicht den besten Start, aber, dass er hereinkommt und nach mir fragt, bedeutet mir die Welt. Ich danke ihm, mehr als er weiß und das mit jeder Faser, die zu mir gehört.
„Bitte, Aziza." Ich schultere meine Clutch und lächele ihn zum Abschied zu, bevor ich aus der Tür in den Flur trete und ihn fassungslos hinterlasse. Ich höre meine Mutter telefonieren und die Kinder in ihrem Zimmer spielen.

Es schmerzt irgendwie, allesamt hier zu wissen, aber zeitgleich tut es auch unendlich gut zu wissen, dass es ihnen besser geht. Schnell bilde ich die Schnüre meiner weißen Sneaker zu Schleifen und widme mich ein allerletztes Mal meinem Spiegelbild. Hey Aziza, du siehst wunderschön aus. Meine Mundwinkel zucken nicht gerade überzeugend, doch da ist keine Stimme, die diesem Satz widerspricht. Ein wenig fühlt es sich sogar friedlich an, als ich meinen eigenen Blick auffange. Ein wenig ... friedlich. Das hatte ich schon lange nicht mehr.

Ich atme ein Mal ein und ein Mal aus, bevor ich die Wohnung und anschließend den Wohnblock verlasse. Immer wieder ringe ich mit meinen Gedanke und darüber, was ich tun und lassen soll. Ich werde diesen Tag bereuen - ich weiß -, aber ich würde es noch mehr bereuen, wenn ich meinen Vater nicht besuchen gehen würde. Ich spaziere gerade zur Bushaltestelle durch die verlassene Dunkelheit und denke an gar nichts, bis mir der allbekannte BMW auffällt, der mitten am Straßenrand hält, aus welchen er austritt.

Das Erste, was ich mir denke, ist: Bitte nicht er schon wieder. Lieber Gott, ich tue alles dafür. Das nächste, woran ich denke, ist: Ayman. Ich denke daran, wie er über Latif und wie er über Latifs unausgesprochenen Probleme sprach. Ich weiß nicht, welche Empfindungen in meinem Herzen trage, aber sie sind komplex genug, damit ich plötzlich stehenbleibe und ihn zu analysieren versuche. Seine gerade Haltung und seine unsichtbare Krone. Er trägt sie so elegant wie ein König und wirkt trotzdem so gelassen wie jemand, dem die Welt gehört.

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