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Gestern ist nicht mehr viel passiert. Ich war einfach anwesend, um ihn beim Schlafen zu beobachten. Jetzt bin ich wieder bei Luca an der Rezeption und versuche, mich damit abzulenken, Akten zu durchschauen. Es ist seine Akte und sein Name und sein Leben, das förmlich in meinen Händen liegt, damit ich es zerquetsche.

„Diagnose mit 15", grummele ich unzufrieden und spüre die Tränen in meinen Augen brennen.
„Und er lebt noch - Jackpot." Jeden Satz, den ich hervorbringe, kommentiert Luca optimistisch. „Und die erste Chemo hat eingeschlagen - doppelter Jackpot."
„Aber der Krebs kam zurück."
„Aber die Chemo schlägt gerade wieder ein."
„Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Krebs nach einer erfolgreichen Chemotherapie wieder auftaucht? Hör auf, so optimistisch zu sein." Ich grummele unzufrieden.

„Das war doch eigentlich deine Aufgabe."
„Ich bin in der Realität angekommen." Ich sehe wieder auf die Akte und lese weiter.
„Hm, er hat auch zugenommen", stellt Luca erfreulich fest. Bei jedem seiner Besuche wird sowohl sein Blutdruck als auch sein Gewicht gemessen. Mittlerweile hat er wieder seit dem letzten Mal zwei Kilo zugenommen, aber das macht mich nicht glücklich - nichts davon.

Ich merke, wie sehr mich diese Worte deprimieren, weshalb ich die dicke Akte ablege und endlich aufstehe.
„Ich verstehe nicht, wie ich nichts gemerkt habe. Luca, er war die ganze Zeit schon hier."
„Er kam mir ohnehin bekannt vor." Ich schlucke schwer und räuspere mich, als mir derselbe Gedanke durch den Kopf schwirrt. Ich versuche krampfhaft, mal nichts zu fühlen, aber gerade ist dieses Nichts ein großer Tsunami unendlicher Gefühle. 

„Ich geh mal nach ihm sehen", murmele ich. Meine Augen fühlen sich schwer an und mein blasses Gesicht zieren dunkle Augenringe, die unter der Gesundheitslinie sind. Dabei macht meine fehlende Konzentration die Situation nicht gerade besser. Letztendlich habe ich dennoch die Tür, nach fünfmaligem Verlaufen, gefunden und trete nach einem Klopfen hinein.

Da sind noch immer keine Schmetterlinge, wenn ich ihn sehe, sondern ein Déjà vu seiner Worte, die er im Auto vor dem Unfall zu mir sprach. Als ich hineintrete, meldet sich zwar mein Fluchtinstinkt, aber ich bleibe an Ort und Stelle, als ich die gebrochene Familie auffinde, die nicht viel tut, als um ihren Sohn zu sitzen, als läge er im Sterbebett. Seine Mutter hat zwar zu weinen aufgehört, aber noch immer laufen ihre letzten Tränen.

Sie bemerken mich nicht und ich halte es nicht für nötig, auf mich aufmerksam zu machen, sondern setze mich gleich in Bewegung, um mich hinter ihnen zu stellen.
„Ich weiß nicht", meint Latif geistesabwesend und versucht Distanz zu behalten. „Ich erinnere mich nicht."
„Ich bin deine Mutter."
„Ja, das sagtest du schon."

„Latif, bitte", schluchzt sie wieder und vergräbt das Gesicht in den Händen. Schon der Anblick diesem Momentes reicht aus, um alle Sicherungen abbrennen zu lassen und mich einer Schockstarre hineinzuversetzen. Ich meine, wie schlimm muss es wirklich sein, wenn sich dein eigener Sohn nicht mehr an dich erinnert? „Wach bitte auf."
„Ich bin wach."
„Wach doch einfach auf", übergeht sie weinend.

Sie bricht neben seinem Bett zusammen und kniet sich neben ihn, um seine Hand zu halten. Würde ich es nicht besser wissen, dann würde ich hoffen, dass sie warm ist, aber sie ist in Wahrheit eiskalt. Ich trete näher, um diesen Moment, der nicht nur sie mitnimmt, ein Ende zu setzen und räuspere mich ein Mal, wodurch alle Gesichter in meine Richtung schellen.

„Aziza." Irre ich mich, oder hört er sich erleichtert an? Mein rechter Mundwinkel verbiegt sich in die Höhe und ich nicke.
„Guten Morgen. Ich möchte nur den Blutdruck messen."
„Ja", sagt er sofort mit dem Drum und Dran, das echter als echt wirkt. Ich traue mich, einen Atemzug einzunehmen und sehe seinen Vater fragend an, der mir nur zunickt. Keine Ahnung, ob sie sich an mich erinnern und keine Ahnung, ob es mich auch nur die Bohne interessiert.

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