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Es dauert nicht lange, bis uns Doktor Mayers aus dem Zimmer schickt und verbietet, unerlaubt hineinzutreten. Dadurch, dass mich Latif bei sich haben möchte, darf ich nachher zu ihm treten. Als wir allesamt erstarrt und fassungslos vor der Krankenhaustür stehen, bricht alles ein. Ayman lässt seine Aggressionen aus, das Heulen der Angehörigen wird lauter und die Verzweiflung mehr.

Überall schreien und brüllen sie und umarmen sich gegenseitig um sich Trost zu spenden. Na ja, alle außer ich, denn ich bin zu schockiert. Ich hoffe noch immer, dass dieses Klischee ein verdammt klischeehaftes Klischee ist, in dem Latif in jeder Sekunde seine Erinnerungen zurückbekommt und weiß, wer verdammt nochmal seine Mutter ist.

„Atmest du?" Rana tritt zu mir und hält mich an den Schultern. Ihr Blick spiegelt so viel Sorge, dabei kann ich mir vorstellen wie leer meine eigener aussieht.
„Ich kann nicht", antworte ich atemlos. Ich atme keine Luft ein, denn ich bin sie nicht wert. Lieber soll Latif jeden meiner Atemzüge intensivieren, wenn er damit am Leben bleibt, aber irgendwie ... irgendwie ist er tot.

Seine Mutter ist am Boden zerstört und sein eigener Vater sieht so aus als hätte er einen Geist gesehen.
„Rana, es tut mir so leid."
„Warum? Es ist nicht deine Schuld."
„Doch", flüstere ich. „Es ist genauso passiert."
„Was??"
„Rana", stocke ich und bin fast dabei, in Tränen auszubrechen. „Es war genau wie in meiner Erinnerung."

„Worüber sprichst du?"
„Ich ... ich weiß es nicht." Das Déjà vu kann unmöglich ein Zufall gewesen sein. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass solch ein Moment zur Wirklichkeit wird? Das ist nicht wahr, obwohl es wahrer nicht hätte sein können.
„Ich verstehe es nicht." Sie schüttelt verständnislos den Kopf.

Ich kann ihr nichts erklären, was ich selbst nicht verstehe. Es ist nicht so, dass ich Lücken im Kopf habe, nein, ich erinnere mich nämlich an jedes ach so kleine Wort, das von ihm kam. Ich erinnere mich an den leeren Atemzug, den er nicht rechtzeitig schnappen konnte und an das Funkeln, das ab einem Punkt erlosch. Ich erinnere mich sogar daran, wie er zuletzt noch lachte und das sein letztes Lächeln gewesen war.

Ich laufe an Rana und geradewegs an alle anderen auch vorbei. Ich würde gerne mit seiner Familie reden, aber was genau soll ich ihnen sagen? Ich habe es schon probiert und trotzdem nichts außer einer verdammten Entschuldigung herausbekommen. Ich konnte nichts sagen, denn es gibt nichts zu sagen. Ich bereue und bereue und er weiß nicht, dass ich bereue, aber ich bereue.

Am Ende lande ich wieder mit allen anderen im Wartezimmer und darf mir die Gespräche anhören, in denen jeder jedem anderen die Schuld für das Geschehen gibt, der eigentlich überhaupt keine Schuld trägt, aber irgendjemand muss schließlich Schuld haben, oder?
„Junge, ich habe ihm so oft gesagt, er soll dieses Drecksauto nicht nehmen!", schreit Ayman und wirft den Tisch um. Krankenpfleger haben sich versammelt und versuchen ihn zu stoppen, aber er ist zu Zeit nicht zu aufzuhalten.

Auf mich wirkt es so, als wäre er auf Entzug, oder würde dringend Drogen benötigen. Seine Augen sind rot, aber das stammt wahrscheinlich von der Schlaflosigkeit und dann ... keine Ahnung, Mann. Fragt mich einfach nicht. Ich sitze halt auf dem Stuhl und beobachte das Spektakel ohne wirklichen Anhaltspunkt.
„Fass mich nicht an!", brüllt er Halim an, der völlig blass im Gesicht ist. „Warum kann er nicht einmal auf mich hören?!"

„Ayman, Bruder, beruhig dich. Es wird alles gut."
„Nichts wird gut!" Und na ja, so geht es eben weiter. Die ganze Zeit und ich schalte einfach ab, bis der Arzt reinkommt und bla-bla-bla. Er redet, ohne dass jemand zuhört und ich eigentlich auch nicht. Eigentlich juckt mich das alles auch überhaupt nicht, bis er zu mir tritt.
„Sie können mitkommen." Und eigentlich möchte ich das auch überhaupt nicht.

Eigentlich möchte ich ganz weit weg sein, aber ich weiß, dass mich Latif an meiner Stelle niemals alleine gelassen hätte. Ich weiß, er würde bis zur letzten Sekunde an meiner seite stehen. Uns beachtet keiner mehr, so dass wir wortlos aufstehen und wieder den Flur entlanggehen. Es ist schwer für mich, jeden ach so kleinen Schritt durchzuführen und den Atem nicht anzuhalten, bis wir vor der Tür stehen.

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