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Ich werde aus dem Kapitel gerissen, als es an der Tür klingelt. Noch bin ich zu verharrt, um meine Umgebung wahrzunehmen und mich zu bewegen, doch als es ein zweites Mal klingelt, hieve ich mich mühsam und lege das pinke Tagebuch auf das Bett ab. Ich richte mein T-Shirt, das verrutscht ist und ziehe die Jogginghose hoch, bevor ich mir durch das Haar fahre.

Noch immer schweifen meine Gedanken zum zwölfjährigen Ich, das darauf wartet, dass Mama vor der Tür steht, doch als ich öffne, ist es nicht sie - genau wie damals. Es war nie sie. Trotz dessen, dass ich bei ihr eingezogen bin, fühle ich mich nicht angekommen, sondern vielmehr wie ein Eindringling in dieser Familiengemeinschaft. Als ich wenig überzeugt die Tür öffne, steht mir eine aufgebrachte Rana bevor, welche in einem kurzen Kleid steckt und die Hände ineinander verknotet. Wie es aussieht, möchte sie etwas von mir und da ich weder Zeit noch Lust dazu habe, ignoriere ich sie. Mehr ist das dann auch nicht.

Ich denke nicht weiter nach, nachdem sie die Augenbrauen fragend zusammenzieht und schlage die Tür gleich wieder zu. Es wäre ein Wunder, wenn sich all meine Probleme genauso leicht lösen lassen würden. Als ich umdrehen und in mein Zimmer gehen möchte, höre ich Schritte, deren Besitzer es wohl oder übel geschafft hat, die Tür rechtzeitig aufzuhalten, bevor sie ins Schloss fiel.

„Warum bist du noch nicht fertig? Schnell, mach dich fertig!", sagt sie hektisch und zerrt an meinem Arm, um mich in mein Zimmer zu führen.
„Was willst du, Rana? Lass mich in Ruhe."
„Nein. Los, los, los." Ihre Euphorie stimmt nicht mit den Gefühlen in meinem Kopf überein, so dass ich ihr meinen Arm entreiße, verständnislos in die Küche torkele und bestmöglich versuche, ihre Existenz zu übergehen.

„Mann, Aziza!"
„Was willst du?" Ich öffne den Kühlschrnk und greife nach meiner Vanillemilch, um mich anschließend auf den Tresen zu setzen und müde meine Augen zu reiben.
„Ich habe dir doch geschrieben. Schaust du überhaupt auf dein Handy?"
„Ich hatte zu tun."
„Nein, hattest du nicht", faucht sie wissend und fährt sich gestresst über das frisierte Haar. „Also Ayman ..."

„Bitte nicht."
„Wir wollten halt irgendwie ... zusammen etwas unternehmen."
„Was?"
„Ja, lass mich aussprechen." Sie läuft rot an und ich kann nicht andrs als über diese Reaktion zu lachen. „Und ich weiß, dass es ziemlich unangenehm werden kann, wenn wir keine Gesprächsthemen haben, deswegen habe ich vorgeschlagen, euch mitzunehmen."
„Euch?" Sie lächelt nur verlegen. Wären meine Augen richtige Laserstrahlen, die sie hätten auslöschen können, gäbe es Rana ab genau dieser Sekunde nicht mehr.

„Vergiss es." Ich stehe vom Küchentresen auf und genehmige mir einen Schluck meiner Lieblingsmilch. Nachdrücklich schüttele ich den Kopf und hoffe, sie in der Realität behalten zu können, in der ich niemals freiwillig mit Latif an einem Tisch sitzen würde.
„Bitte, du kannst mir das nicht antun!", mault sie flehend. „Komm schon."
„Nein. Außerdem muss ich nachher zu Zaman und Alim."
„Warum?", fragt sie kritisch. „Haben sie etwa keinen Vater? Wo ist Salim schon wieder?"
„Geschäftlich unterwegs."

„Wer das nicht sagt." Ich lege die Milch wieder an seinen Platz und suche nach etwas Essbarem, doch auf einen Bueno habe ich keine Lust und um nach einer Orange zu greifen, ist es zu mühsam. Alles ist mühsam. Also starre ich den Kühlschrank an, in der Hoffnung, er würde sich auf magischer Weise von selbst füllen. „Du kannst später zu ihnen. Bitte, tu mir das nicht an."

„Nope."
„Bitte!" Sie zieht das Wort in die Länge. „Ich tue, was du willst. Ich schulde dir danach etwas."
„Vergiss es." Sie pustet dramatisch die Luft aus den Wangen und stemmt die Hände in die Hüften. „Ich fahre dich später sogar zu den Kindern."
„Ich kann nicht, Rana." Den Kühlschrank stoße ich mit der Hüfte zu, als ich nichts Ansprechendes finde. „Und ich will nicht mit Latif an einem Tisch sitzen."

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