Kapitel 36 - Elijah

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Kapitel 36:



Elijah



Es ist erst kurz vor halb sieben, als mich das Sonnenlicht und das Vogelgezwitscher von draußen weckt. Ich bin immer und immer wieder aufgewacht und jetzt kann ich endgültig nicht mehr schlafen. Zum Frühstücken ist es noch deutlich zu früh, obwohl es in den Ferien schon Tage gab, wo ich um diese Uhrzeit schon gegessen habe. Aber die beiden Sachen kann man nicht vergleichen. Ich zwinge mich, aus dem gemütlichen Bett aufzustehen und entscheide mich dafür, eine Runde joggen zu gehen. Dies sollte mich auf der einen Seite fit halten und mir auf der anderen Seite den benötigten, klaren Verstand verschaffen. Ich öffne die Türen des Kleiderschrankes und hole meine Sportklamotten heraus, welche ich mir direkt anziehe.

Unten am Eingang angekommen, stecke ich meine Kopfhörer in mein Ohr, suche mir eine Playlist auf Spotify aus und entscheide mich bei der Streckenauswahl, für den Wald. Es ist frisch draußen und noch gleichzeitig noch nicht so warm, was das Joggen deutlich angenehmer macht. Aber es wird Zeit, dass ich wieder öfters laufen gehe. Damals, als ich noch in Lakeshore wohnte, habe ich dies früh oder auch abends getan und wenn Claire ab und zu dabei war, sind wir auch zusammenlaufen gegangen. Doch seit ich in Deutschland bin, habe ich das Joggen ziemlich vernachlässigt. In den ersten Monaten habe ich es noch regelmäßig hinbekommen, sogar Hannah begleitete mich dabei, was ich wirklich toll fand. Aber Stück für Stück wurde es immer weniger. Und eigentlich tut es mir ganz gut. Man kann sich auspowern.

Allerdings kann mich das Joggen nicht davon abhalten, wieder in meine Gedankenwelt abzutauchen. Heute kommt Kira wieder, worauf ich mich einerseits ziemlich freue, weil ich schon jetzt merke, wie sehr sie mir fehlt, was ich ehrlich gesagt nie gedacht hätte. Zumindest nicht, wenn mir das am Freitagabend jemand gesagt hätte. Am Freitag, wo ich dieses unbeschreibliche Teenager Mädchen, mit den lilafarbenen Augen zum ersten Mal begegnet bin. Aber andererseits habe ich auch etwas Angst. Angst vor dem, worüber Kira mit mir reden will. Angst vor dem, was passieren könnte, wenn sie auf Mika trifft. Und dann gibt es noch den einen Punkt auf meiner imaginären Liste, der noch offensteht. Das Gespräch mit Mika. Ich will sie immer noch auf das ansprechen, was sie mir angetan hat. Aber wie soll ich das machen? Allein schon, wenn ich wieder daran denke, werde ich sauer und lässt das Blut in mir kochen.

Ich laufe den Pfad entlang, um den künstlich angelegten See und muss zugeben, dass es hier im Wald, umgeben von den meterhohen Schwarzeichenbäumen, noch viel schöner aussieht, als von außen. Die Strecke ist ziemlich lang, ja, aber sie ist es definitiv wert. Dabei bin ich an einer kleinen Klippe, vielleicht so drei bis vier Meter tief vorbeigekommen. Von da aus hat man nochmals eine ganz andere Sicht auf den See, wie aus dem Fenster im Wohnzimmer. Wenn dort jemand am ersten Abend stand, hätte dieser direkt auf die Stelle schauen können, wo Kira und ich im Wasser waren und sie berührte. Vielleicht ergibt sich noch die Möglichkeit, mit ihr von dort runter zu springen. Immerhin sind wir noch mindestens ein Tag hier.

Kurz darauf verlasse ich den Wald Pfad und komme dem Eingang der Herberge immer näher. Das Joggen tat verdammt gut, ich schwitze und bis außer Atem. Nach einem kurz tippen auf mein Fitnessarmband, erfahre ich, dass ich ganze 40 Minuten joggen war. Das der See so groß ist, hätte ich nicht gedacht. Jetzt ist es zehn vor halb acht und die kühle Luft kühlt mich ein wenig ab. Dennoch kann ich so unmöglich beim Frühstück auftauchen, wo wahrscheinlich eh noch niemand meiner Freunde ist. Deswegen nutze ich die Gelegenheit, um noch entspannt duschen zu gehen. Das habe ich mir immerhin verdient.

Ich schließe die Tür des Duschraumes hinter mir und merke sofort, dass ich allein bin. Zumindest fühlt es sich so an, da ich niemanden höre, geschweige denn sehe, aber das muss noch lange nichts heißen, wie ich gestern mit Lisa feststellen durfte. Was sie wohl gerade macht? Ob sie mit ihrem Dad redet oder eher was mit ihren Freundinnen macht? Ich ziehe mir meine verschwitzten Klamotten aus und lasse diese zu Boden fallen. Vorsichtig wickle ich erst den Verband ab, bevor ich anschließend das Pflaster löse. Es fängt langsam an, zu verheilen, was gut ist. Das Wasser habe ich schon angestellt, weswegen ich nun direkt unter die Dusche steigen kann, lasse die Kabinentür wieder auf, da ich mir ziemlich sicher bin, dass mich niemand stören wird. Denn Jannes hat zu 100 Prozent die Nacht mit und vor allem bei Lilly verbracht und ich denke nicht, dass die beiden schon jetzt wach sind. Und was die Mädchen angeht, die haben ihren eigenen Duschraum. Es ist schön angenehm auf meiner Haut und entspannt meine Muskeln langsam Stück für Stück. Ich stelle mich wieder mit dem Rücken zur offenen Kabinentür und stemme meine Hände gegen die kalte Duschwand, damit das Wasser in jede noch so kleine Faser meines Körpers gelangt.

Währenddessen versuche ich einen Plan zu entwickeln, mit dem ich Mika, dieses so temperamentvolle Mädchen zur Vernunft bringen kann. Ich muss mit ihr reden, soviel steht fest. Das ist unausweichlich. Denn so kann es auf gar keinen Fall weiter gehen. Nur gibt es da diesen einen Teil in mir, der immer noch an etwas in ihr festhält. Uns zwar an das Gute. Dagegen kann ich nichts unternehmen. Das war schon immer so. Selbst als das mit Stella war. Anfangs war ich sauer, richtig sauer auf sie, aber nach der Zeit... sind auch diese Wunden verheilt... und ich konnte ihr vergeben. Ich habe an ihrer guten Seite festgehalten, so wie ich es wahrscheinlich auch bei Mika machen werde.

„Oh fuck“, höre ich plötzlich jemanden hinter mir sagen. „Ich hätte klopfen sollen...“ Die Stimme, welche sich als weiblich herausstellt, wird mir immer vertrauter. Ich stelle das Wasser ab und drehe mich um, wo ich augenblicklich stehen bleibe. „Claire, du bist es“, sag ich leise und werde sofort rot. „Es tut mir leid...“, entschuldigt sich meine Cousine direkt bei mir und wird ebenfalls rot. „W...Was machst du hier?“, möchte ich wissen. Ich fahre mir erst durch mein nasses Haar, bevor ich mir dann eines der weißen Handtücher nehme und es um meinen nackten Körper wickle, damit Claire nicht weiter auf erregten Penis starren kann. Als ich sie jedoch dabei erwische, schaut sie binnen weniger Sekunden, verlegen zur Seite.

„Wegen des Wasserdrucks“, antwortet sie und bringt mich damit zum Schmunzeln. Das habe ich mir schon fast gedacht. „Ist der Wasserdruck wirklich so schlimm bei euch?“, hake ich interessiert nach und lehne mich mit dem Rücken gegen das Waschbecken, hinter mir. „Ohja. Du würdest den Unterschied sofort merken“, sagt sie und wirft ihr ebenfalls weißes Handtuch, über die Kabinenwand links von der, worin ich bis vor kurzem noch duschte. Dann fängt sie an, sich seelenruhig auszuziehen, als wäre es etwas völlig Normales, in einer Männerdusche, zu duschen. Auch hierbei ist Claire relativ offen. Aber das liegt glaube ich eher daran, dass ich es bin, der mit dabei ist. Wenn es Jannes wäre, würde sie es denke ich nicht so einfach machen.

„Außerdem sind Lilly und Jannes gerade dabei, in der Dusche zu vögeln“, haut sie raus und geht in die Kabine. Sie stellt sich genauso hin, wie ich es immer tue. Die Hände sind gegen die kalte Fließen Platten gestemmt und ihr Rücken zur mir gerichtet. „Dann kann ich es noch mehr verstehen, dass du lieber hier bist“, versichere ich ihr und kann nicht anders, als ihren nackten Körper zu mustern. Er ist gebräunt und ihre Hüfte leicht kurvig, was Claire meiner Meinung nach, besonders gutsteht. Mein Blick läuft ihren Rücken hinunter, welcher sich durch das warme, angenehme Wasser, langsam entspannt. „Und? Wie ist es?“, frag ich nach, als nicht mehr von ihr kommt. Das einzige, was ab und zu über ihre Lippen kommt, ist ein leises seufzen. Wahrscheinlich wegen des Wassers. „Verdammt gut“, lautet ihre Antwort, welche mich sofort zum Lachen bringt. Mein Blick zieht sich über ihre Beine und bleibt zum Schluss an ihren Fußgelenken hängen, wo sich jeweils links und rechts ein Tattoo befindet. „Freut mich sehr.“ Dass ich mich damals hab tätowieren lassen, war ihre Art Motivation, es kurz darauf, ebenfalls zu tun. Nur hat sie sich die Geburtstage ihrer Eltern stechen lassen.

„Wie geht es dir?“, möchte sie kurz darauf wissen und dreht sich, seit sie in die Kabine stieg, dass erste Mal so um, dass Claire mich anschauen kann. Ihre Wangen werden wieder rot, als ich auf ihren nackten Oberkörper schaue. Ich finde es wirklich toll, dass wir in sowas ziemlich offen sind. „Besser, aber ein wenig nervös“, gebe ich zu und fange an, mich abzutrocknen. Dabei stelle ich fest, dass meine Cousine nun diejenige ist, die ihren Blick nicht von mir lassen kann. Jetzt frag ich mich, ob sie schon mal etwas mit einem anderen Jungen hatte? Aber das hätte sie mir auf jeden Fall gesagt. „Warum nervös?“ Ich lasse das weiße Handtuch zu Boden fallen und ziehe zuerst eine frische Boxershorts an. „Weil ich noch Mika zur Rede stellen muss und Kira, wenn sie zurück ist, noch mit mir reden möchte“, erkläre ich ihr und hole den Verbandskasten von der Ablage. „Hach Elijah“, sagt sie seufzend und stellt die Dusche ab. Dann wickelt sie sich ihr Handtuch um den Körper und tritt aus der Kabine heraus.

„Was denn?“, will ich wissen und suche die Sachen aus dem Kasten zusammen, die ich brauche, um einen neuen Verband anzulegen. „Du machst dir schon wieder viel zu viele Sorgen.“ Mit einem jedoch verständnisvollen, zarten Lächeln auf den Lippen, kommt sie auf mich zu und verständigt sich per Blickkontakt mit mir, dass sie diesen Part mit dem Verarzten übernimmt, weswegen ich mich still an den Waschbeckenrand lehne. „Ich kenne sie jetzt schon eine Weile, um sicher sagen zu können, dass Kira das Herz am rechten Fleck hat, Elijah. Es wird alles gut.“ Sie beäugt meine Brust, dort wo sich die ganzen Kratzer befinden und trägt die Salbe noch einmal dünn auf. „Meinst du das wirklich?“, frag ich noch etwas unsicher nach. Claire nickt. „Ja, sonst würde ich es nicht sagen.“ Mit ihren Fingerspitzen fährt sie sanft über die Kratzer, welcher von allen am schlimmsten ist. „Ich glaube, dass wir keinen Verband mehr brauchen.“ Sofort bildet sich ein Funkeln in meinen Augen. „Das hört sich gut an.“ Dann nehme ich mein frisches, schlichtes T-Shirt und ziehe es an. Auch wenn ein Verband schützt, bin ich dennoch froh darüber, ihn nicht mehr tragen zu müssen.

Nachdem Claire sich auch angezogen hat, wir gemeinsam schnell Zähne putzten und den Duschraum aufräumten, bringen wir unsere Sachen auf die jeweiligen Zimmer und gehen anschließend zusammen nach unten. „Lilly ist nicht in ihrem Zimmer“, teilt sei mit und hält mir dabei die Brandschutztür auf, welche unsere Etage von der Holztreppe trennt. „Vielleicht ist sie schon unten“, argumentiere ich, woraufhin sie nur nickend antwortet. „Ich hoffe, denn mein Hunger wird immer größer.“ Wir beide müssen lachen. Bei Claire ist es genauso. Sie kann ebenfalls so viel essen, wie sie will, ohne dabei dicker zu werden.

Beim Betreten des Essenssaals, schaue ich automatisch auf meine Armbanduhr. Es ist kurz nach acht Uhr. Dann waren wir ungefähr eine halbe Stunde im Duschraum, was mir irgendwie länger vorkam. Mein Blick schweift nun direkt durch den Saal und erblicken zwei unserer Freunde, wie sie bereits draußen im Außenbereich sitzen und schon frühstücken. Ich stelle einen Teller mit Bratkartoffeln, Rührei und Bacon auf mein Tablett, sowie einen kleinen mit Wassermelone und mache mir dazu auch noch eine Tasse Tee, mediterraner Pfirsich und gehe damit nach draußen, wo mir eine etwas wärmere Luftbrise ins Gesicht weht.

„Guten Morgen ihr beide“, sag ich grüßend zu Lilly und Lina. Das Lilly hier schon sitzt, wundert mich ein bisschen, da ich stark annahm, sie sei noch oben bei ihrem Freund. „Morgen Elijah, auch schon wach?“ Kurz darauf setzt sich auch Claire mit ihrem Tablett zu uns an den Tisch. „Ich war schon eine Runde um den See joggen“, erkläre ich mich und fange an, zu frühstücken. „Ich weiß“, kommt es kichernd aus Lina hervor. „Woher denn, dass?“, frage ich sie und ziehe verwundert eine Augenbraue hoch „Vom Außenbereich aus konnte ich dich die ersten Minuten ein bisschen beobachten“, erfahre ich, was mich auch ein wenig zum Schmunzeln bringt. „Wie lange sitzt du denn schon hier?“, möchte ich daraufhin wissen. Ich bin zwar am Haupteingang der Herberge gestartet, doch beim Betreten und Verlassen des Waldes konnte man, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, ein wenig auf den Außenbereich schaue. Da muss sie mich gesehen haben. Anders kann ich es mir nicht erklären. „Ich konnte nicht mehr schlafen und
bin deswegen schon einmal runter gegangen“, macht sie weiter und nippt an ihrem Kaffee. „Achso“, sag ich und halte kurz inne, um selbst einen Schluck zu trinken. „Ich hatte nur gedacht, dass hier noch niemand wäre, als ich joggen ging, da es zu dem Zeitpunkt noch relativ früh war.“

Doch noch bevor Lina etwas drauf antworten kann, räuspert sich Claire neben mir und fragt ihre beste Freundin Lilly: „Und was ist mir dir? Ich dachte, du seist noch im Duschraum und vögelst mit Jannes“ Lina und ich fangen augenblicklich an zu husten, was sich fast schon so anhört, als würden wir uns verschlucken. Auch Lilly bleibt sichtlich die Spucke weg, welche im selben Moment rot anläuft und ihr Gesicht in den Händen vergräbt. „Müsst du das hier so laut herum posaunen?“, zischt sie meine Cousine an, die daraufhin nur lacht. Lilly seufzt auf, fährt sich durchs Haar und schaut uns dann an. „Ja, wir haben es dort... getrieben... Aber ich bin danach schon mal runter...“, erklärt sie uns und nimmt einen großzügigen Schluck ihres Organgensaftes. „Und was ist mit Jannes? Wo ist er?“, hakt sie weiter nach, hofft aber gleichzeitig, nicht zu aufdringlich zu sein. „Oben“, antwortet sie nur und zuckt mit den Schultern.

„Kann ich euch beide mal was fragen?“, spreche ich Lina und Lilly beim Essen an. „Natürlich.“ Ich atme tief durch. Diese Frage stelle ich mir schon seit ein paar Tage. Hab mich aber nie wirklich getraut, sie zu stellen. Jetzt wurde mir eine passende Gelegenheit zu Füßen gelegt, welche ich nutzen muss, bevor diese wieder verschwindet. „W...Wenn euch das zu unangenehm ist, dann müsst ihr natürlich nicht antworten...“, will ich sagen, werde aber schnell von einer Hand unterbrochen, die sich hebt. Es ist die von Lilly. „Egal was es ist Elijah, es wird weder Lina, noch mir zu unangenehm sein“, versichert sie mir glaubhaft, was mich erfreut und mir ein wenig die Unsicherheit nimmt, die sich durch diese Frage anbahnt. „Warum seid ihr im Heim?“ Kaum habe ich meine Frage gestellt, verfliegt das auch sonst so leiseste Flüstern unter uns. War es vielleicht doch falsch, sie zu stellen? Bin ich damit in ihre Privatsphäre eingedrungen?

„Willst du zuerst?“, fragt Lina unsere Freundin. Lilly nickt wortlos, nimmt noch ein Schluck von ihrem Orangensaft und fängt danach an, zu erzählen: „Meine Mum ist die Gouverneurin einer US-amerikanischen Kleinstadt und mein Dad...“ Sie macht eine kurze Pause und schaut auf den Tisch. „Er war Geschäftsmann...“ Ihr Gesichtsausdruck sieht traurig und bedrückt aus. „Warum war?“, hake ich vorsichtig nach. „W...Weil er jetzt im Gefängnis sitzt... Uns zwar unschuldig...“ Das über ihre Lippen zu bringen, fiel ihr ziemlich schwer. Zudem zwingt sie sich regelrecht, nicht zu weinen. „Du musst nicht...“, möchte ich sie dran erinnern, doch Lilly schüttelt schnell mit dem Kopf. Sie sagt nichts dazu, signalisiert mir aber, dass alles in Ordnung ist. „Und da ich ehrlich gesagt nicht wirklich Lust hatte, im Ausland bei meiner Mum zu leben, bin ich einfach hier her.“ Damit habe ich nicht gerechnet. Wie lange sie ihren Dad wohl schon nicht gesehen hat? Das muss bestimmt nicht ganz einfach für sie sein. „Aber ich bin drüber hinweg“, sagt sie dann leise und schaut mich an. Doch ihre Augen sind mit funkelnden Tränenperlen gefüllt. Dieses Mädchen ist noch lange nicht darüber hinweg. Aber ebenfalls zeigt sie mir, dass sie gerade nicht in der Lage ist, darüber zu sprechen. Das respektiere ich sofort und kann es voll und ganz verstehen.

Kaum ist Lilly mit ihrem Teil fertig, macht auch Lina schon weiter. „Ich bin Vollwaise...“ Schon nach dem ersten Satz, den sie über ihre Lippe gebracht hat, läuft es mir eiskalt über den Rücken hinunter. „Meine Eltern..., sie sind beide bei einem Autounfall ums Leben gekommen.“ Anders wie Lilly, versucht Lina erst gar nicht, ihre Tränen zurückzuhalten. Aber trösten lässt sie sich ebenfalls nicht genauso wie Lilly.“ Damals war ich erst zehn, als es passierte. Es war schlimm...“ Das kann ich nachvollziehen. Niemand hat es verdient, auch nur ein einziges Elternteil zu verlieren. Denn ich weiß selbst wie es ist, jemand geliebtes zu verlieren. Meine Mum starb, als ich noch relativ klein war. Leider kann ich mich nicht mehr an sie erinnern. Dann war das vor ungefähr sechs Jahren. „Ich war nach dem Tod meiner Eltern, in vielen Pflegefamilien. Mindestens sechs oder sieben...“ Das sind viele. „Allerdings bin ich mit kaum einer gut klargekommen.“ Das machte die Situation sicher nicht besser. „Doch kurz vor meinem 13ten Geburtstag, wurde ich in die Einrichtung gebracht“, erfahre ich, was mir am Ende die Sprache verschlägt. Jetzt kenne ich die Lebensgeschichte von jedem einzelnen Mitbewohner. Doch ich kann nicht beurteilen, welche Geschichte von ihnen am schlimmsten ist. Alle sind auf ihre eigene Art und Weise besonders. Besonders schlimm.

„Aber seit ich in der Einrichtung bin, habe ich eine neue Familie gefunden“, sagt sie kurz darauf und schaut jeden einzelnen von uns an, bis sie bei mir stehen bleibt. „Und du Elijah, du bist das jüngste Mitglied.“ Lina bringt mich zum Schmunzeln. „Das stimmt und ich bin froh, ein Teil dieser Familie zu sein.“ Ich lege ohne etwas dazu zu sagen, meine Hand in die Mitte des Tisches. Sofort verstehen die anderen, was ich damit meine und legen auch ihre Hände dazu. „Wir sind für einander da“, lasse ich meine Freunde wissen. „Nach all der Zeit?“, fragt Claire mich. „Immer.“

Wir redeten noch ein wenig weiter und bemerkten gar nicht, dass nun auch die letzte, noch fehlende Person unseres Kreises, sich zu uns setzte. „Jannes“, kommt es freudestrahlend aus Lilly heraus, nachdem sie es als letztes bemerkt. Das Mädchen mit dem silberfarbenen Haar, steht augenblicklich von ihrem Platz auf, setzt sich auf den Schoß ihres Freundes und küsst diesen. Wie es aussieht, bewirkt seine Anwesenheit, dass sich die Traurigkeit seiner Freundin, binnen weniger Sekunden verschwindet. Ob das bei Kira und mir auch so wäre? „Tut mir leid, dass es etwas gedauert hat“, entschuldigt er sich bei ihr und legt seine Lippen auf ihre Stirn. „Nicht schlimm“, sagt sie und schmiegt sich an seine Brust. „Es war wunderschön.“ Die geflüsterten Wörter scheinen unter anderen nur bei mir anzukommen, da die anderen nichts darauf sagen. „Fand ich auch“, erwidert er grinsend und streicht mit seinen Händen über ihren Rücken. Es ist wirklich schön mit anzusehen, wie glücklich die beiden miteinander sind.

„Wie geht es dir eigentlich Elijah?“, werde ich kurz darauf von Jannes gefragt, welcher sich nun über das Frühstück her macht, was ihm seine Freundin Lilly zur Seite gestellt hatte. „Besser... Auf jeden Fall besser, als gestern“, antworte ich. „Doch ihre Aktion habe ich trotzdem nicht vergessen…“ Ich muss versuchen, dabei nicht wieder wütend zu werden. Die anderen werden ruhig und unterbrechen ihr leises Geflüster. „Das freut uns zu hören, wirklich“, sagt Lilly und lächelt mir aufmunternd zu. Aber dann hält sie kurz inne und lässt Lina dafür weiter machen. „Was möchtest du denn machen? Etwa mit den Erziehern darüber reden?“ Meine Augen weiten sich, gefolgt von einem schnellen Kopfschütteln. „Nein. Auf gar keinen Fall!“, reagiere ich ernst und etwas lauter, als gedacht. „Das muss so gut es geht, unter uns bleiben.“ Die anderen stimmen mir nickend zu. „Wie willst du es dann machen Elijah?“ Darüber habe ich mir schon Gedanken gemacht, auch wenn ich nicht ganz sicher bin, ob dieser Plan so gut ist, da er noch nicht ganz fertig ist. „Ich habe vor, sie noch einmal in das Zimmer zu locken...“, erkläre ich mein Freunden und bekomme ein paar verunsicherte Blicke zugeworfen. „Bist du dir da auch wirklich sicher?“, hinterfragt Claire vorsichtshalber und macht sich wahrscheinlich von allen hier anwesenden, am meisten Sorgen. „Bin ich. Wenn es klappt und sie darauf eingeht, werde ich sie dort zur Rede stellen.“ Ein paar von ihnen zögern bei meinem Plan etwas, was ich ihnen nicht verübeln kann. Anders herum würde ich wahrscheinlich genauso reagieren.

„Du weißt aber schon, dass das auch nach hinten los gehen Elijah, oder?“, antwortet Claire und hängt direkt eine Gegenfrage an. „D...Das... Das ist mir bewusst Leute...“ Das ist es mir wirklich. „Doch dieses Risiko gehe ich ein“, versichere ich ihnen mit ernster Stimme. Etwas Angst habe ich dennoch. Es könnte wirklich etwas schief gehen. Das kann es immer. Man kann nie zu 100 Prozent sagen, wie etwas ausgeht. „Weißt du denn schon, wann du deinen Plan in die Tat umsetzen möchtest?“, will Lina wissen. „Wahrscheinlich dann, wenn unsere Betreuer weck sind.“ „Super“, sagt sie und trinkt ihren Kaffee aus. „Ich werde mir etwas ausdenken, um sie zu dir zu locken.“ Ich nicke lächelnd. „Danke. Ich weiß deine Hilfe sehr zu schätzen.“ Auch sie lächelt mich jetzt an. „Immerhin will ich auch, dass Mika wieder die alte wird...“ Jetzt frag ich mich, wie sehr Lina das alles mit ihrer besten Freundin wohl belastet? Aber sie ist ein wirklich starkes Mädchen. Das merkt man, wenn man sich etwas mit ihr beschäftigt. „Ich sag einfach, dass Jake mit ihr reden will.“ Daran habe ich gar nicht gedacht. „Und du glaubst, dass funktioniert?“, hake ich dennoch nach. „Ich bin mir ziemlich sicher“, antwortet sie. „Aber wir sollten das Thema wechseln.“ Sie deutet mit einem kleinen nicken auf drei Personen, die auf uns zu kommen.

„Gut geschlafen?“, werden wir diesmal, als erstes von Herr Rosenbach gefragt, welcher sich mit seinem Tablett links von mir hinsetzt. Mein Blick geht direkt zu ihm. Er hat sich gestern Abend wieder mit meiner Tante getroffen. Der Knutschfleck, welcher sich an seiner rechten Halsseite befindet, verrät ihn. Die beiden haben sogar versucht, ihn mit etwas Puder zu verdecken, was aber anscheinend nicht ganz klappte. „Ja“, antworte ich, bevor es die anderen können und beiße von dem letzten Stück Wassermelone ab, welches sich noch auf meinen kleinen Teller befindet. Dabei wandert mein Blick nun hinüber zu seinen Armen, wo sich am rechten Handgelenk ein silbernes Armband befindet. Dort sind römischen Zahlen eingraviert. Das ist ein Datum. Aber welches? Hat meine Tante Jennifer ihm das geschenkt? Wenn ja, dann muss das Datum irgendwie mit den beiden in Verbindung stehen. Vielleicht ist es ja, an dem sie zusammenkamen. Das wäre zumindest verdammt süß.

„Steht heute irgendwas an?“, möchte ich wissen, um mich wiederum gleichzeitig zu vergewissern, dass nichts, aber auch wirklich nichts meinem Plan dazwischenfunkt. „Wir schauen uns nachher das Anne-Frank-Haus an. Wenn einer von euch mitkommen möchte, müsst ihr nur einen von uns Bescheid geben“, teilt uns Herr Reuter mit. Die anderen schauen alle zu mir und warten auf meine Antwort. „Ich denke, wir bleiben hier“, entscheide ich mich. „Wir werden hier etwas zusammen machen.“ „Macht das. Dann gehen wir eben allein“, sagt er und nippt an seinem Kaffee. „Na toll“, räuspert sich Herr Rosenbach neben mir und entlockt mir dabei ein kleines schmunzeln. Ich schaue kurz zu ihm und kann anhand seines Gesichtsausdrucks ablesen, wie sehr er sich auf diesen Ausflug freut. Er hat absolut kein Bock darauf. Nur dachte ich, dass meine Tante ein wenig auf ihn abfährt. Schließlich hätte sie ohne zu zögern, ja gesagt.

Nachdem auch Jannes fertig gegessen hat, räumen wir in Ruhe unsere Tabletts mit dem Geschirr weg und gehen dann hinunter zum Pavillon, wo wir uns zu fünft hinsetzen. Was Mika wohl gerade macht? „Wie geht es deinen Verletzungen, Elijah?“, will Claire wissen, die von hinten ihre Arme um mich schlingt. Jedes Mal, wenn sie das macht, wird mir ganz warm. Das fühlt sich unglaublich schön an und trägt so ein vertrautes Gefühl mit sich, was danach schreit, mehr zu wollen. „Du hattest recht... Es ist besser, wenn frische Luft drankommt“, gebe ich zu und kann mich ein Grinsen nicht verkneifen. „Sag ich ja“, flüstert sie an mein Ohr und legt mir ihre Lippen in den Nacken, wo sich sofort eine Gänsehaut bildet.

„Wir sind jetzt los“, ruft Herr Rosenbach nach etwa einer halben Stunde zu, was sich bei ihm viel mehr nach einem verzweifelten Hilfeschrei anhört, als eine Abschiedsmitteilung. „Er wird es überleben“, scherzt meine Cousine leise, woraufhin mir alle anfangen zu lachen. Wir lachen, obwohl uns gar nicht zu lachen ist, wenn man bedenkt, was uns gleich bevorsteht. Naja... Was mir bevor steht, wenn man es so sieht. Aber es muss sein. Ich muss dieses Mädchen zur Rede stellen. Ansonsten wird sie es vielleicht noch einmal tun und das will ich auf gar keinen Fall zulassen.

Meine Freunde und ich warten noch eine weitere halbe Stunde, bis wir wieder in die Herberge zurück gehen. „Holst du Mika?“, bitte ich Lina. „Dann gehe ich schon mal in den Raum.“ Mach ich“, sagt sie und geht zum Treppenhaus, wo die Holztreppe nach oben in unsere Etage führt. Man merkt, dass auch sie ziemlich angespannt ist. Wir gehen durch die Lobby und bleiben vor dem Raum stehen, in dem ich gestern Morgen aufwachte. Es war schrecklich und bereit mir noch jetzt Gänsehaut. Die sich über meinen ganzen Rücken hinunter zieht.

„Bist du dir wirklich sicher, dass du das durchziehen möchtest?“, fragt meine Cousine noch einmal nach. Ich kann es ihr nicht verübeln, dass sie sich so große Sorgen macht. „Ja, bin ich. Das muss jetzt ein Ende haben“, antworte ich und öffne dabei vorsichtig die Tür. „Pass bitte auf dich auf, Elijah.“ Sie greift nach meinem Oberarm und umarmt mich. „Versprochen Claire“, sag ich und gebe ihr einen Kuss auf die Stirn. „Wenn irgendwas sein sollte, wir sitzen in der Lobby“, versichern mir die anderen, welche direkt hinter ihr stehen. Ich nicke nur und gehe in den dunklen Raum, wo ich direkt die Tür hinter mir schließe. Angespannt nehme ich auf der Couch Platz und warte, bis Mika kommt.

Doch schon wenige Minuten später, vibriert mein Handy. Eine WhatsApp Nachricht von Lina.


Lina: Mika kommt gleich. Sie freut sich, zumindest sah es so aus.


Gut. Dann weiß ich Bescheid.

Elijah, Kira und das Geheimnis der MitbewohnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt