Kapitel 26:
Elijah
Es ist noch nicht mal acht Uhr, als ich mich schon für den Tag fertig gemacht habe, obwohl ich noch nicht mal weiß, was wir heute überhaupt machen. Ich habe kaum geschlafen und immer, wenn ich aufgewacht bin, habe ich mir mehrmals den Liebesbrief durchgelesen, mit der Hoffnung, dass er von Kira ist. Ja, mittlerweile wünsche ich mir sogar, dass dieser von ihr ist. Klar kann er auch von Mika geschrieben sein. Aber ich weiß wirklich nicht, wie ich reagieren würde, wenn diese Zeilen von dem Mädchen stammen, wo ich gestern Abend dachte, sie sei Stella. Ich bin immer noch unwissend darüber, ob ich nun halluzinierte oder nicht. Diese Krankheit macht mich noch wahnsinnig.
Ich schließe vorsichtig die Tür hinter mir zu und schleiche leise den Flur entlang. Dabei bemerke ich, dass die anderen noch schlafen. Zumindest kann man nichts aus ihren Zimmern hören. Zum Glück. Ich gehe die hölzerne Treppe nach unten, in den Speisesaal und erblicke Lina, die an unserem Tisch sitzt. Aber Alleine, was mir ein kleines zartes Lächeln auf die Lippen zaubert. Ich nehme mir einen Teller und tue mir etwas vom Büfett auf. Ich habe ziemlich Hunger.
„Guten Morgen“, begrüße ich sie. „Kann ich mich zu dir setzen?“, frag ich sie gleich darauf, als ich mit meinem Tablett zu unserem Tisch komme. „Klar Elijah“, antwortet sie freundlich und deutet auf den freien Platz ihr gegenüber. „Warum bist du schon so früh wach?“, versuche ich herauszufinden und fange an meine Cornflakes zu essen. „Mika war heute Morgen nicht in ihrem Bett und bevor ich mich zu Tode langweile, mach ich lieber was sinnvolles“, erklärt sie mir und schiebt sich ihre Gabel, voll mit Rührei in den Mund. Einen Hauch von Sorge breitet sich in meinem Körper aus. Wo war sie die ganze Nacht über? Was hat sie gemacht? Wie geht es ihr?
„Kann ich dich was fragen Lina?“, kommt es kurz darauf aus mir heraus. Diese Frage stelle ich mir schon seit Freitag, als ich sie das erste Mal sah. Sie schaut von ihrem Teller hoch und sieht mich an. „Was denn?“, möchte sie wissen. „Warum ist Mika eigentlich so? Also so temperamentvoll, so rebellisch...?“. Auf ihren Lippen bildet sich ein verständnisvolles lächeln. So, als hätte sie nur darauf gewartet, dass ich diese Frage stelle. Bin ich so leicht zu durchschauen? „Das ist eine etwas längere Geschichte Elijah. Willst du diese wirklich hören?“, hakt sie vorher nach. Ich nicke. „Gerne. Ich muss es einfach wissen.“ Ich weiß nicht, ob ich ihr sagen soll, was da gestern zwischen uns lief. Wie würde sie reagieren? Ich merke, dass es ihr nicht leichtfallen wird, es mir zu sagen, freue mich aber dennoch, dass sie es versucht. Lina atmet tief durch.
„Ich fange ganz von vorne an“, sagt sie und schaut mich an. „Mika die Tochter eines russischen Diplomaten Demjian Sokolova und der deutschen Bankchefin Theresa Sokolova. Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr, wohnte sie in Russland bei ihrer Familie, wo es ihr ganz gut erging. An ihrem Geburtstag, haben sie ihren Onkel in Syrien besucht.“ Lina macht eine kurze Pause und ballt ihre Hände zu Fäusten. Ich ahne nichts Gutes. „Dort haben sie ihre Tochter Mika ausgesetzt und zurückgelassen. E...Er hat sie... an einen Sklavenhändler verkauft...“ Ihre Stimme ist jetzt nur noch ein Flüstern, gefolgt von einem zittern. Ich nehme ihre Hände in meine und streiche mit dem Daumen über ihren Handrücken. „Du musst nicht weitererzählen, wenn es zu sehr weh tut“, lasse ich sie wissen und versuche aufmunternd zu lächeln, doch nachdem was ich schon gehört habe, erscheint mir dies gerade als unmöglich. „I...Ich möchte aber, dass du es erfährst Elijah, die ganze Wahrheit.“ Eine Träne löst sich, rollt ihr über die Wange und landet dann direkt auf unsere Hände. „Oki“, kann ich in dem Fall nur sagen und lasse sie weiter machen.
„Als Sklavin hat sie schreckliches durch machen müssen. Ich war selbst geschockt, als sie mir davon erzählte. Ich war von den Jugendlichen in der Einrichtung die erste, der sie davon erzählte.“ Das kann ich gut nachvollziehen. „Sie hat psychische Schäden davongetragen und hat am Rücken eine große Narbe, die durch eine Explosion entstanden ist.“ Dann ist das also die Narbe, die ich gesehen habe. „Mit fast 15 konnte Mika endlich zusammen mit anderen Flüchtlingen aus Syrien fliehen. In Deutschland angekommen, suchte sie Hilfe bei Verwandten, die sie dann in unsere Einrichtung brachten. Dort ist sie schon fast über zwei Jahre.“ Wieder macht sie eine kurze Pause. Meine Augen weiten sich. Wenn man die Geschichte hinter einem Menschen nicht kennt, dann kann man sich nur ein Bild mit den Teilen machen, die einem in den Weg gelegt wurden. Mika verhielt sich gegenüber ihren Mitbewohnern meistens temperamentvoll, aber ich erlebte sie auch als nettes Teenager Mädchen. Daraus musste man sich dann ein Bild zurechtlegen. Und jetzt, wo man Stück für Stück mehr erfährt, bildet sich ein ganz anderes Bild.
Nach einer kurzen Pause macht sie weiter. „Wie du ja weißt, ist Mika ein sehr rebellischer Teenager und dass sie sich oft, beziehungsweise kaum noch an die Regeln hält. Dies ist aber erst so, seitdem Jake aus der Einrichtung gegangen ist“, erklärt sie weiter. Der Junge auf dem Foto, wo sie so glücklich aussieht So schwerelos. „Andere wiederum denken, dass ihre Vergangenheit der Grund dafür ist.“ Wissen die anderen von dem, was sie durchmachen musste? „In der Einrichtung lernte sie ihn dann kennen und war mit ihm fast ein Jahr lang zusammen.“ Warum haben sich die beiden getrennt? „Allerdings hat sie noch etwas Hoffnung, dass er wiederkommt.“ Das muss ziemlich schwer für sie sein, wenn eine Person, die man über alles liebt, plötzlich weg ist. „Man sieht es ihr auf den ersten Blick an Elijah, aber sie hat auch ihre guten Seiten.“ Ich nicke sofort, da ich weiß, dass es stimmt. Mika hat eine gute Seite. Eine Seite, welche Ich vielleicht von einigen am meisten kennenlernen durfte.
„Verdammt!“, kommt es mir etwas lauter über die Lippen. Ich umklammere sofort meine Tasse Tee und nehme einen Schluck der warmen Flüssigkeit, die mich etwas beruhigt. „Was ist?“, will sie natürlich gleich daraufhin wissen. „ I...Ich hab dieses Mädchen am Anfang komplett falsch eingeschätzt...“, gestehe ich und schaue Lina in die Augen. „Alles gut“, versichert sie mir. „Ich möchte einfach nicht, dass sie falsch abgestempelt wird. Weißt du, wie ich das meine?“ „Ich habe sie die letzten Tage von ihrer guten Seite erleben dürfen“, lasse ich sie wissen, woraufhin sie sofort anfängt, zu grinsen. „Das ist wirklich schön Elijah. Aber du musst mir sagen, wenn etwas ist“, bittet sie mich. Ich nicke nur und schaue auf meinen Teller.
Doch Lina zählt eins und eins zusammen. „Was ist passiert?“, will sie wissen und lässt dabei ihre Stimme etwas ernster klingen. Soll ich es hier sagen? Das war gestern Abend in der Dusche passierte? Oder soll ich sie anlügen und hoffen, dass sie nicht so viel fragt? Ich kenne dieses Mädchen noch nicht so gut. Nur, dass sie wirklich nett und freundlich ist. Aber ob sie zu der Sorte Mädchen wie Olivia und Claire gehört, die nicht lockerlässt, wenn sie etwas wissen wollen, weiß ich nicht. „Egal was es ist Elijah, du kannst es mir sagen. Ich werde dir nicht den Kopf abreißen“, spricht sie mir zu. „W...Wir... Wir haben uns angefreundet, wenn man das so beschreiben kann...“, sag ich und werde ein bisschen rot. „In wie fern?“, hakt sie weiter nach und isst dabei ihre Pancakes. „Sie hat mir ein bisschen den Kopf verdreht...“ Lina schluckt hörbar. „Ihr habt euch geküsst?“, spricht sie mich direkt darauf an. „Nicht nur...“ Plötzlich fällt ihre Gabel klirrend auf den Teller. „Du hast einen guten Einfluss auf sie Elijah. Das habe ich bereits gemerkt.“ Dann hält sie wieder kurz inne. „Aber ich möchte, dass du trotzdem aufpasst. Oki?“ Ich nicke nur, da ich nicht ganz weiß, was sie mir damit sagen soll und ich ungern mehr offenlegen will. Zumal ich nicht einmal selbst weiß, was echt und was unecht ist.
„Guten Morgen ihr beide“, werden wir von Jannes, Lilly, sowie Claire und Kira begrüßt, die sich gerade mit ihrem Tablett zu Lina und mir an den Tisch setzen. Schnell wirft sie mir einen vielsagenden Blick zu, dass wir erstmal nicht weiter über dieses Thema reden sollen. „Dich hier schon so früh essen zu sehen, wundert mich sehr“, sagt Claire, als sie sich auf den freien Platz rechts von mir setzt. Was soll ich denn jetzt sagen? „Ich konnte nicht mehr schlafen und bin schon runtergegangen“, versuche ich so glaubwürdig wie es nur geht, über meine Lippen zu bringen. „Und dann habe ich Lina gesehen“. Sie nickt wortlos. Hat sie mich ertappt? Meine Cousine lässt sich auch nichts anmerken. „Habt ihr denn gut geschlafen?“, fragt Kira uns. Dabei bemerke ich, wie sie immer wieder zu mir rüber schaut. Sie sitzt rechts von Lina, als mir etwas schrägt gegenüber. Ihre Zehenspitzen streifen wieder an meinem Bein entlang. Diesmal spüre ich sie aber auf meiner Haut, da ich keine Jogginghose trage, sondern eine kurze, was ich nicht bereue.
Die nächste halbe Stunde, fühlt sich an wie mehrere Stunden. Ich schweige die ganze Zeit. Denn durch die Geschehnisse von gestern Abend und das, was ich vorhin über Mika erfuhr, bin ich nur noch mehr überfordert. Es ist wie bei einer Waage. Als ich gestern Nacht in der Dusche saß und drüber nachdachte, war die Waage ausgeglichen. Auf der linken Seite liegt das Wissen über Mika, ihre gute Seite. Hingegen liegt auf der rechten Seite, die Halluzination, dass ich denke, dass sie Stella ist. Aber mit dem, was ich jetzt erfuhr, ist die Waage nicht mehr ausgeglichen. Die linke Seite bewegt sich ganz langsam nach unten, ist daher schwerer. Also war es doch nur eine Halluzination. Eine, die ich so noch nie hatte, seit das mit Stella vorbei war. Nicht einmal bei Hanna. Trat dies auf.
Zum Glück reden die Mädchen die meiste Zeit über Sachen, wozu ich nicht sonderlich viel beitragen kann. Nur Claire scheint zu bemerken, dass ich die meiste Zeit nur körperlich anwesend bin. Wir haben uns während des Essens ein paar Nachrichten über WhatsApp hin und her geschickt, was ganz witzig war, wenn man bedenkt, dass wir keine zwei Meter voneinander entfernt sitzen. Aber so konnten wir uns, ohne dass die anderen zuhörten, unterhalten. Ich habe ihr nicht viel erzählt, nur das ich gerade viel am Nachdenken bin. Meine Cousine hat mich ein bisschen aufgemuntert. Zwar bekam Kira nichts mit, hat aber dennoch ihre Zehnspitzen nicht von mir gelassen. Doch leider konnte ich mich nicht allzu gut darauf konzentrieren, wie ich es gerne täte.
„Guten Morgen ihr“, hören wir es plötzlich von Herr Reuter, Frau Hauser und Herr Rosenbach sagen. Herr Reuter und seine Kollegin sehen beide ausgeschlafen und munter aus. Hingegen kann man das von Herr Rosenbach leider nicht behaupten. Er hat Augenringe und sein Haar sieht ziemlich zerzaust aus. Ob er die Nacht durchgemacht hat? Vielleicht hat er sich auch heimlich mit meiner Tante Jennifer getroffen. Ich würde es beiden zutrauen. Denn wenn das so wäre, haben sie sicherlich miteinander geschlafen. Diese Gelegenheit würden sie ausnutzen. Wenn man ihre Vergangenheit kennt, so wie ich, dann merkt man, wie gut er ihr tut.
„Was steht heute auf den Plan?“, möchte ich in Erfahrung bringen und schaue zu unseren Betreuern, die verteilt bei uns am Tisch sitzen. „Wir haben eine Bootstour für heute geplant“, antwortet Herr Reuter und nippt an seiner Kaffeetasse. „Das wird schön“, hören wir von Kira sagen, noch bevor ich selbst antworten kann. Dabei sieht sie mich wieder mit diesem Funkeln in den Augen, was ich zuletzt unten am See zu Gesicht bekam. Anschließend nimmt sie ihren Fuß endgültig von mir, zieht sich erst die Socke wieder an und dann ihren Schuh. Das macht sie so, dass niemand von den anderen etwas von mitbekommt. „Wann geht es los?“, fragt Jannes nach, der so wie ich, gerade fertig geworden ist. „Sobald wir mit dem Frühstück fertig sind“, erklärt uns Herr Reuter und beißt von seinem Brötchen ab. „Ihr könnt aber ruhig schon hoch gehen und euch fertig machen.“
Auf dem Weg nach oben, hält mich Lina kurz zurück. „Gib ihr eine Chance Elijah. Ich vertraue dir. Du bist nicht so, wie die anderen.“ Sie schaut mich mit ihren braunen Augen an, die voller Ehrlichkeit gefüllt sind. Wie meint sie das? Sei nicht so wie die anderen? „Das habe ich bereits. Gestern Abend...“ „Ich hoffe, dass sie jetzt wieder in ihrem Zimmer ist, sonst mache ich mir wirklich Sorgen.“ Stimmt. Da war ja was. Lina meinte vorhin, dass Mika heute Morgen nicht in ihrem Bett lag, als diese aufwachte. „Du kannst mir ja schreiben“, schlage ich ihrer besten Freundin vor und bin etwas erleichtert darüber, dass sie nicht weiter nachfragt, was gestern in der Dusche passierte. „Werde ich machen“, sagt sie und umarmt mich kurz, bevor wie die letzten Schritte nach oben machen.
„Treffen wir uns dann im Wohnzimmer?“, frage ich, als wir auf unserer Etage angekommen sind. „Ja“, antworten die anderen knapp. Ich ziehe die Schlüsselkarte aus meiner Hosentasche hervor und öffne damit meine Zimmertür, die ich, als ich drin bin, hinter mir zu mache und mich für einen kurzen Augenblick mit den Rücken dagegen lehne. Meine Augen schließen sich. Ich habe in den letzten Tagen zwei Mädchen kennengelernt. Mika und Kira. Die eine gut und die andere anfangs böse. Doch jetzt sind beide gut. Ich weiß von beiden die Vergangenheit und beiden bin ich schon nähergekommen. Sehr näher, wobei ich nicht weiß, ob das so gut ist. Ich möchte niemanden von den beiden verletzen, was vielleicht passieren wird, wenn der eine vom anderen erfährt. Allerdings bin ich mit niemanden von ihnen zusammen, weswegen es in meiner Hand liegt, was ich mache und wie weit ich gehe. Gerade aber frag ich mich, ob ich nicht doch gestern nein hätte sagen sollen, als mich Mika drum bat, sie zu ficken.
Plötzlich klopft es an der Tür, was mich sofort zusammenzucken lässt und ich automatisch ein paar Schritt nach vorne gehe. „Kann ich reinkommen?“, höre ich Kira fragen. Binnen weniger Sekunden bildet sich ein erfreutes Lächeln auf meine Lippen. Ich öffne ihr die Zimmertür und werde ebenfalls von einem Lächeln begrüßt, welches mich direkt verzaubert. Sie hat sich umgezogen und trägt jetzt eine weiße Hotpants und ein T-Shirt, dass sie bauchfrei geknotet hat. Ihre leicht lockigen Haare liegen auf ihren Schultern. „Hast du alles für den Tag?“, vergewissert sie sich und stellt sich ans offene Fenster, mit dem Rücken zu mir. So wie da steht, mit dem Blick auf den See, so verträumt, sieht sie einfach nur... unbeschreiblich aus. Die kühle Luft weht ihr leicht durchs Haar, wie ein zarter Atemhauch, den man gegen seine Lippen bekommt. Ich packe die Sachen, die ich brauche in meinen Rucksack und stelle diesen dann auf mein Bett. „Habe ich“, antworte ich. Im selben Moment dreht sie sich um und streicht sich mit ihren Fingern ein paar Strähnen aus dem Gesicht. „Ich wollte noch kurz mit dir reden Elijah“, sagt sie und kommt auf mich zu. Eigentlich sollte mir dies Panik bereiten, doch ihre sanfte Stimme bewirkt das Gegenteil. Sie beruhigt mich.
„E...Es war süß von dir, w...wie du mich gestern Abend nach oben gebracht hast u...und noch ein paar Minuten da geblieben bist“, stottert sie verlegen und kommt weiter auf mich zu. Meine Wangen färben sich leicht rot. „Du erinnerst dich daran?“, hake ich nach. Sie nickt, mit ebenfalls roten Wangen. „Wir haben uns geküsst“, sagt sie schon fast flüsternd. „I...Ich fand es schön“, gebe ich zu und merke, wie ich mit meiner rechten Hand, eine ihrer Locken hinter ihr Ohr schiebe. Auf was auch immer das hier hinausläuft, es gefällt mir und ich möchte mehr davon. Das was sie tut oder was sie sagt, tut mir gut. Sehr gut. Sie hat ihre beiden Hände an meine Taille gelegt und ich spüre, die Wärme, die dadurch fließt und sich auf mich überträgt. Es ist angenehm. „Ich aber auch“, flüstert sie und schaut mich mit ihrem unschuldigen Blick direkt an. Ich sehe, wie sie sich auf ihre Lippe beißt. Als ich sie ebenfalls berühre, entweicht ihr ein leises Stöhnen. Ich sehe sie an. Ohne was zu sagen, verlagern sich ihre Hände um meinen Nacken und sie zieht mich ein wenig zu sich runter. „Wir müssen noch etwas nachholen“, sagt sie daraufhin und küsst mich. Sie küsst mich sanft und dann gierig. Gierig nach dem, worauf sie gerade Lust hat. Lust auf mich. Ich hebe sie hoch, drücke sie, wie schon einmal, an den Kleiderschrank. „Das müssen wir“, keuche ich leicht und schiebe meine Hand unter ihr T-Shirt. „Hmmm“, seufzt sie und vergräbt ihr Gesicht an meiner Schulter.
„Wir gehen los!“, klopft Herr Reuter laut an die Tür. „Nicht schon wieder“, bringe ich genervt über die Lippen und lasse sie vorsichtig wieder rüber. „Nächstes Mal lassen wir den Teil, wo wir reden, gleich aus“, sagt sie lachend und richtig ihre Kleidung, damit keiner merkt, was hier drin gelaufen ist. „Das ist eine gute Idee“, antworte ich und nehme meinen Rucksack vom Bett. Dann kommt sie auf mich zu und haucht mir ein: „Wir holen es nach, versprochen. Diesmal aber wirklich“, ins Ohr, ehe sie dann mein Zimmer verlässt. Ich atme tief aus. Dieses Mädchen schafft es, aufs Neue meinen Verstand zu vernebeln. Fast schon so, wie Mika es tat. Nur das es bei Kira anders ist. Ganz anders. Auf eine mir noch unerklärliche Art und Weise.
„Seid ihr soweit? Habt ihr alles, was ihr braucht?“, fragt er uns noch einmal, als wir zu ihm ins Wohnzimmer kommen. Ich stelle mich direkt an Kiras Seite, so wie heimlich nach meinen Fingern greift, um sich an einem davon einzuhaken. „Ich freue mich auf heute Abend“, sagt sie ganz leise, damit nur ich es höre. Gänsehaut breitet sich aus. „Ich auch“, und stelle mir vor, was dann geschehen könnte. Jetzt gibt es etwas, auf das ich mich freuen kann. Ich hoffe, dass mich das ein wenig ablenken kann.
„Wir sind fertig“, antworten die anderen. „Gut. Dann können wir los“, beschließt Herr Reuter und steht auf. „Allerdings wird Mika hierbleiben. Ihr geht es nicht gut. Frau Hauser bleibt hier und passt so lange auf sie auf“, erfahren wir noch von ihm. Ich kann mir vorstellen, was der Grund dafür ist. Im selben Moment vibriert mein Handy. Ich ziehe es aus meiner Hosentasche und erblicke auf dem Display, den Namen von Lina.
Lina: Sie ist in ihrem Zimmer und lässt nicht mit sich reden. Vielleicht bekommst du naher etwas mehr heraus, als ich.
Ich kann sie ja heute Abend, wenn wir wieder zurück sind, auf etwas zu trinken einladen. Vorausgesetzt es passt zeitlich mit dem, was Kira vorhat. Irgendwie werde ich Mika schon dazwischenschieben können. Aber jetzt möchte ich mich erstmal auf das konzentrieren, was wir heute vorhaben. Die Bootstour, auch wenn das nicht meine Erste sein wird.
Diesmal sind es Jannes und Ich, die in dem kleinen Citroen mitfahren. Unser Fahrer? Herr Rosenbach, der jetzt schon viel besser aussieht. „Ist alles bei ihnen in Ordnung? Sie sahen heute Morgen am Frühstückstisch so fertig aus“, spreche ich in darauf an. Die anderen haben sich in den Hyundai gesetzt und fahren mit Herr Reuter. Ich mache es mir auf dem linken Sitz gemütlich und ich lasse mir die kühle Luft durch das offene Fenster wehen, welches ich vor ein paar Sekunden etwas runter ließ „Du hast meine Augenringe bemerkt?“, fragt er mich etwas peinlich und schaut dabei in den Autospiegel. „Die waren ja nicht zu übersehen. Haben sie die Nacht durch gemacht?“, hake ich weiter nach, bin dabei aber vorsichtig, nicht zu weit zu gehen. Immerhin hat er noch eine Privatsphäre, auf welche man immer zu achten hat. Dennoch finde ich diese lockere Mitbewohner-Betreuer Bindung echt toll. „Nicht ganz. Ich war noch in der Stadt unterwegs“, antwortet er und konzentriert sich auf die Straße. Wir werden ungefähr eine halbe Stunde brauchen, da die Herberge etwas außerhalb liegt.
„Ganz allein?“, mache ich weiter und hole meine weißen Kopfhörer aus dem Rucksack, wo ich direkt anfange, diese zu entwirren. „Da ist aber jemand ziemlich neugierig“, stellt er lachend fest. „Tut mir leid, falls ich zu weit gegangen bin“, entschuldige ich mich sofort, doch Herr Rosenbach lacht weiter. Es ist ein ansteckendes Lachen, weswegen ich mich, wenn auch ein bisschen schüchtern, etwas mit einstimme. „Nein Elijah, alles gut. Ich habe mich mit jemanden getroffen.“ Wir bekommen uns beide wieder ein. „Mit meiner Tante?“ Kaum ausgesprochen, lässt sich im Spiegel beobachten, wie sich seine Wangen langsam rot färben. Dann lag ich mit meiner Vermutung also richtig. „Wir hatten einen Termin, sind das was Essen gegangen und hatten dann tatsächlich noch etwas Zeit für uns.“ Man merkt, dass er mit diesen Themen relativ offen um geht, aber auch nicht zu viel verrät. Das hat mir auch schon Claire einmal erzählt. Vielleicht liegt es auch einfach daran, dass er etwas mit meiner Tante am Laufen hat und diese ja sozusagen zu meiner Familie gehört. Ich lasse es auf die letzte Aussage beruhen, stecke mir die Kopfhörer in die Ohren und starte meine Spotify Playlist.
Während der Fahrt, verschlägt es mich kurz auf WhatsApp und bekomme von der Audionachricht mit, die mir Stella schickte. Sie ist von gestern Abend. Ich habe sie Stumm geschaltet, was ich anscheinend schon wieder vergaß. Aber ich musste es einfach tun, da ich nachdem, was am Freitagabend bei ihr passierte, nicht mit ihr schreiben konnte, beziehungsweise wollte. Aber da ich es selbst nicht mag, ignoriert zu werden, höre ich sie mir an. Ihre Stimme ist leise und schluchzend. Als sie es aufnahm, hat sie geweint. Sie entschuldigt sich nochmals dafür, was passiert ist. Mittlerweile bin ich bereit, ihr zu verzeihen.
Kurz nach dem ich mir die Audionachricht zu ende anhörte, kommt eine weitere Nachricht von ihr. Wieder ein Urlaubsfoto von ihr. Stella hat schon immer gern Bilder gemacht. Egal wo von. Am Liebsten aber Sonnenaufgänge und Untergänge, sowie welche, woraus sie mit zu sehen ist. Auf dem hier ist sie auch drauf. Es wurde am Strand gemach. Genauer gesagt, im Wasser. Sie trägt einen weißen Bikini, fast so einen, wie Mika am Samstag im Freibad trug. Nur das dieser ihr besser steht, was ich zugeben muss. Wir waren oft Baden, egal ob am Meer oder nur im Lakeshore River. Als noch alles gut zwischen uns war, war dies auch wirklich toll. Aber auch als sie mir das antat, gab es Momente, in denen sie so war, wie sie eigentlich ist. Uns zwar ganz normal. Manchmal, wie jetzt gerade, vermisse ich diese Zeit. Das Wasser war schon immer ihr Element. Genauso wie das von mir. Dort blüht sie auf, dass konnte ich oft beobachten. Selbst als wir es im Wasser getrieben hatten, war sie besser, als im Bett.
Elijah: Deine Entschuldigung ist angenommen. Wir können, wenn du wieder da bist, uns gern treffen. Da gibt es noch etwas, worüber ich gern mit dir reden möchte. Hab noch einen schönen Urlaub.
Die Sache mit der Halluzination lässt mich immer noch nicht in Ruhe. Vielleicht hilft es ein bisschen mit der Person zu reden, die es sozusagen verursacht hat. Kurz darauf taucht eine weitere Nachricht auf. Diesmal von meiner besten Freundin Olivia, die mir, obwohl ich die Nachricht noch nicht las, ein Lächeln auf die Lippen zaubert.
Olivia: Hey. Ich habe mit Claire gestern Abend noch ein paar Stunden telefoniert. Es hat so viel Spaß gemacht und ich habe noch mal gemerkt, wie sehr ich sie liebe. Wir haben ausgemacht, dass ich euch besuchen komme, sobald ihr wieder von der Ferienfahrt zurück seid.
Ich freue mich sehr für Olivia. Die beiden sind so ein süßes Paar. Und wenn das klappt, dass sie uns besuchen kommt, wäre es echt schön. Zudem bin ich auch ein wenig erstaunt, dass die beiden gestern noch telefoniert haben, zumal Claire betrunken war. Allerdings war sie meines Erachtens nach nicht so sehr betrunken, wie Kira.
Elijah: Das ist schön. Ich stehe hinter euch und würde mich riesig freuen, wenn du uns besuchen kommst. Dann können wir ja, wie in alten Zeiten, zusammen essen. Wie eine Familie.
Ich schließe WhatsApp, widme mich dem Song, der gerade läuft und merke, dass wir schon fast da sind.
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Elijah, Kira und das Geheimnis der Mitbewohner
Teen FictionDer 16 jährige Elijah Black kommt, aufgrund der Arbeit seines Vaters, zu Beginn der Sommerferien in eine Kinder und Jugendeinrichtung. In den ersten zwei Tagen lernt er dort den gleichaltrigen Jannes, der später sein bester Freund wird, kennen, sowi...