13 Ein Libyer im Schneegestöber

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Der Libyer fluchte laut und arabisch. Er schlug auf das Lenkrad des Ford Taunus, aber das löste den Stau auch nicht auf. Mitte November, Freitag obendrein. Auf der Autobahn bei Wuppertal ging seit Stunden nichts mehr. Dichtes Schneetreiben hatte die A1 zum Parkplatz gemacht. Er musste umplanen. Tom nach der Schule abzupassen, war längst nicht mehr zu schaffen.

Er studierte die Karte und suchte sich einen Weg nach Hohenberg. Es war dunkel, als er vorsichtig die Serpentinen zu der kleinen Stadt im Sauerland hinaufschlich. Der festgefahrene Schnee war schwarz gesprenkelt, man hatte Schlacke gestreut. Er fand einen Parkplatz an der Hauptstraße und stellte den Wagen ab. Die Nebenstraßen waren unpassierbar.

„Tom, kommst Du mal. Besuch für Dich!" rief Toms Mutter.

Der kleine schwarzhaarige Mann, der in einem leichten Mantel und Halbschuhen mit einem Aktenkoffer vor der Tür stand, hatte Schneepakete auf Hut und Schultern. Sein Lächeln wirkte sehr bemüht. Er stellte sich Toms Mutter als Mr. Al-Mansour vor, die ihn hereinbat und schnell die Tür schloss, denn die Flocken wehten in den Flur. Tom hörte mal wieder nichts - Kopfhörer, nahm seine Mutter an. Sie bat den Besucher, im Wohnzimmer Platz zu nehmen, und holte ihren Sohn aus der Welt der Musik in die Realität.

„Da ist ein Mann, der nur Englisch spricht, Al-Mansour."

Tom nahm drei Stufen auf einmal. Er rannte ins Wohnzimmer und prallte zurück, als sei er gegen ein elektrisches Kraftfeld gelaufen. Sein Herz pochte.

„Was machen Sie denn hier?"

„Tut mir leid, ich wollte Dich nicht hier überfallen, Tom. Ich wollte Dich von der Schule abholen, aber der Schnee, Stau auf der Autobahn, ich bin seit heute Morgen unterwegs."

Tom war völlig verwirrt. Wie kam der libysche Händler, der nach dem Mord an ihrer Geisel verschwunden war, und der angeblich in Bonn einen Laden hatte, ins Sauerland? Tee! Tee war die Lösung.

„Darf ich Ihnen Tee anbieten?"

„Das ist sehr freundlich, danke."

„Sie sehen hungrig aus."

„Ich habe acht Stunden gebraucht, von Bonn hierher."

Tom bat seine Mutter, Tee zu kochen und den Abendbrottisch zu decken. Er dankte dem Himmel, dass sein Vater erst am Samstag von seiner Geschäftsreise nach Berlin zurückkehren würde.

„Ziehen Sie doch Ihre Jacke aus, die ist ja ganz nass. Wir können sie über die Heizung hängen, auch Ihren Mantel."

„Wer ist der Mann?" fragte seine Mutter.

„Ein Bekannter aus Athen. Er war in der Nähe und wollte mich mal besuchen, und nun der Schnee..."

Er konnte seine Mutter nicht anlügen, und das hatte er auch nicht getan. Na ja, eine weiße Lüge schon, aber die Wahrheit war manchmal einfach zu kompliziert. Er stellte Kanne, Gläser und Zucker auf ein Tablett, ging ins Wohnzimmer und schenkte Tee ein. Ein Gespräch über die Familie, die der Libyer sehr vermisste, weil er ganz allein in Deutschland war, gab Tom Zeit, seinen Blutdruck auf Normalmaß fallen zu lassen. Ihm war klar, der Mann wollte etwas von ihm. Fragte sich nur, was.

„Ich glaube, jetzt essen wir erst mal, und dann können Sie mir in Ruhe erzählen, was Sie ins schöne Sauerland verschlägt."

„Danke. Gibt es hier im Ort eigentlich ein Hotel, wo ich übernachten kann? Ich kann auf keinen Fall bei dem Schneetreiben mitten in der Nacht nach Bonn fahren."

„Es gibt schon ein Hotel, aber Sie können gerne auch hier schlafen."

„Das ist wirklich freundlich, Tom. Da heißt es immer, die Deutschen verstehen nichts von Gastfreundschaft. Seit ich in Bonn wohne, weiß ich, dass das ein Vorurteil ist."

Die richtigen Leute Band 4: Das Ende der AngstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt