Während des Frühstücks war Tom geistesabwesend. Martin und Nikos sahen ihm beim Grübeln zu.
„Warum hat der mich angegriffen, warum wollte er mich töten?"
„Er wollte seinen Bruder rächen."
„Also findet er es ungerecht, dass Mahmoud im Gefängnis sitzt. Ich frage mich nur, wie kann das sein? Wenn das mit dem Stamm hier so funktioniert, wie ich mir das vorstelle, dann würde ein Kinderschänder wie Mahmoud ausgestoßen, und sein Bruder würde ihn nicht mehr kennen. Ich glaube, er weiß gar nicht, was Mahmoud getan hat, oder er weiß es und will es nicht wahrhaben."
„Frag ihn, Tom."
„Genau deswegen will ich mit ihm sprechen."
Von zwei Soldaten eskortiert betrat der junge Mann mit gesenktem Blick das Krankenzimmer. Seine Nase war unter einem dicken Verband versteckt. Hinter ihnen ging ein älterer Mann in einem grauen Kaftan. Sein weißer Bart war ehrfurchtgebietend. Die Soldaten führten ihren Gefangenen an Toms Bett.
„Sieh mich an," sagte Tom auf Englisch. Der Mann gehorchte.
„Kannst Du Englisch?"
„Ja."
Tom bat die Soldaten, ihm die Handschellen zu lösen, was sie widerwillig taten. Dann bat er alle, den Raum zu verlassen. Nikos und Martin gingen hinaus, die Soldaten ließen sich zweimal bitten und stellten sich dann in den Türrahmen. Der alte Mann protestierte, ein Soldat übersetzte:
„Ich bin beauftragt, zu beurteilen, ob es eine Chance gibt, dass man sich einigt, Deine und seine Familie. Ich muss bei Eurem Gespräch dabei sein, sonst muss die Sache vor Gericht verhandelt werden."
„Wir werden Ihnen berichten, was wir besprochen haben, aber jetzt möchte ich bitte mit ihm allein sein."
Der Mann gab nach und setzte sich im Flur auf die Bank. Die Soldaten schlossen auf Toms Wink hin die Tür.
„Ich bin Tom, ich bin 18 und werde in ein paar Wochen die Schule abschließen. Wie heißt Du, wie alt bist Du, was machst Du?"
„Ich bin Ahmed, 22, ich studiere Bohrtechnik."
„Sag mir, warum Du mich umbringen willst."
„Weil Du meinen Bruder verraten hast und er ein alter Mann ist, wenn er jemals aus dem Gefängnis kommt. Das ist nicht richtig."
„Ich finde es gut, dass Du so zu Deinem Bruder stehst. Ich stehe auch so zu meinem Bruder. Weißt Du, was Dein Bruder meinem Bruder angetan hat?"
„Sie haben sich gestritten, Mahmoud wurde angegriffen. Ich wusste nicht, dass das Dein Bruder war, das tut mir leid, wirklich. Mein Bruder hat sich gewehrt und Deinen Bruder getötet. Du hast ihn ausgeliefert und gesagt, es war Mord. Das war es nicht, es war Notwehr."
„Ahmed, ich erzähle Dir jetzt, wie es wirklich war. Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, ich werde die ganze Wahrheit sagen. Du hast keine Fesseln an, ich bin in Deiner Hand. Bitte höre Dir an, was ich zu sagen habe, und wenn Du dann immer noch findest, dass ich Deinem Bruder Unrecht getan habe, dann töte mich. Aber wenn Du glaubst, dass Dein Bruder böse ist, dann möchte ich, dass wir Freunde werden."
Der Mann sah ihn anscheinend ausdruckslos an. Er hatte deutlich mehr Verletzungen als am Tag zuvor.
„Sie haben Dich geschlagen? Warum?"
„Weil Du Gaddafis Gast bist, ist doch ganz einfach. Ich höre mir an, was Du zu sagen hast. Du hast Mut. Ich habe mir Dich anders vorgestellt."
Behutsam erzählte Tom Mahmouds wahre Geschichte. Wenn Ahmed wirklich nichts davon wusste, würde das für ihn eine sehr bittere Wahrheit sein. Er musste vorsichtig vorgehen, um nicht eine Kurzschlussreaktion zu provozieren. Er machte mehrere Pausen, damit der Libyer stückchenweise verdauen konnte, was er ihm vorsetzte. Als er alles erzählt hatte, der Reihe nach, von Anfang bis Ende, sah er Ahmed in die Augen. Er konnte nicht in ihnen lesen.
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Die richtigen Leute Band 4: Das Ende der Angst
Ficción históricaNachdem die Gruppe um Tom und Nikos alle Abenteuer des Sommers 1971 heil überstanden hat, erlebt Dave nach seiner Rückkehr ins Internat in Sandhurst ein Déjà-Vu: Er wird wieder erpresst. Dave findet sich in Situationen wieder, die ungleich gefährlic...