Alles oder nichts

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„W-Was?" stotterte ich, völlig überrascht und baff, als ich mir das Foto genauer ansah. Ja, Flavio hatte Recht, das waren eindeutig meine Eltern. Definitiv jünger, als ich sie kannte, aber dennoch meine Mutter und mein Vater, „aber das ergibt keinen Sinn."

„Wieso nicht? Deine Mutter hat hier gearbeitet und dein Vater kam öfters her, was ist daran so ungewöhnlich?"

„Ich....ich dachte immer," versuchte ich zu erklären, „das meine Eltern...ach keine Ahnung, dass sie mich irgendwie nicht geplant hatten. Dass sich das alles so spontan ergeben hatte mit dem Heiraten und dem Baby, aber das Bild ist von 1991....sechs Jahre vor meiner Geburt. Das heisst, sie haben sich damals schon gekannt." Das stellte meine ganze Welt auf den Kopf.

„Und geliebt," fügte Flavio meinem Gerede hinzu und ich starrte ihn mit weit offenen Augen an. Was wusste er, was mir verborgen blieb? Was hatte ihm mein Vater darüber gesagt?

„Wie meinst du das?"

„Naja, dein Alter Herr hat da mal sowas erwähnt, nicht absichtlich, aber trotzdem. Eigentlich war immer Theo Derjenige, dem er am meisten vertraut hat, und eines Abends vor etwa zwei Jahren hat er ihn angerufen und ihn gebeten, dass Theo ihn genau aus diesem Irish Pub abholen kommt. Theo hatte gerade keine Zeit und hat mich geschickt. Als ich hier ankam, da - sagen wir mal, war dein Vater nicht mehr in seiner besten Verfassung. Er hat sinnloses Zeug vor sich her gelabert, aber im Auto hat er dann von deiner Mutter erzählt und davon, wie er sich schon auf den ersten Blick in sie verliebt hatte."

All das waren so viele neue Informationen, die ich nirgends einordnen konnte. Ich hatte nicht gewusst, dass mein Vater meine Mutter wirklich so sehr geliebt hatte. In den letzten Jahren hatte ich mir eingeredet, er hätte uns verlassen, weil er uns nicht gemocht hatte, aber jetzt erschien das alles in einem anderen Licht.

„Das heisst...?" fragte ich zögerlich nach.

„Das heisst, er ist damals gegangen, um dich und deine Mutter zu schützen und er hat es sein ganzes Leben lang bereut, nicht bei euch geblieben zu sein. Er wollte auch mal aussteigen, weisst du, so wie du es versucht hast, aber sein damaliger Anführer hat ihn nicht gelassen."

„Wow," flüsterte ich völlig überwältigt und schüttelte den Kopf, um meine Gedanken etwas unter Kontrolle zu bringen. Das änderte alles, alles, was ich jemals vermutet und geglaubt hatte. Flavio legte einen Arm um mich, zog mich an seine Seite und ich genoss für einen Moment unsere Zweisamkeit, die nicht mehr lange anhalten würde.

Der restliche Abend verlief ruhig und irgendwie...romantisch, was in mir ein schlechtes Gewissen auslöste. Flavio wusste nicht, was ich bald vorhatte und ihn nun so schamlos auszunutzen, tat mir weh, aber mir blieb keine Wahl.

Besser gesagt - er hatte mir keine Wahl gelassen.

Ich gehörte zu den Red Moons und er nicht mehr. Und ich würde meine Gang beschützen, meine Leute, meine Freunde, nicht ihn.

Ich hatte es sogar geschafft, den Anführer nach ein paar Bieren dazu zu bringen, mir mein Handy wieder zu geben. Unter dem Vorwand, Xavier wegen Ashton anrufen zu wollen, versteht sich. Ausserdem hatte ich gesagt, ich musste mit der Polizei wegen dem Mord an meiner Mutter in Kontakt bleiben und erreichbar sein, falls sie mich suchten. Das hatte lustiger Weise funktioniert, fast schon zu einfach, wenn ihr mich fragt.

Als Flavio mich später zu meinem Zimmer zurück brachte und ich mich zu ihm drehte, als ich vor meiner offenen Zimmertüre stand, schluckte ich schwer und versuchte, meinen rasenden Puls zu vergessen. Meine Hände zitterten, als der Anführer der Anacondas eine Hand an meine Wange legte und mir tief in die Augen starrte, als wolle er alles darin ergründen und meine Selle finden.

Gangs - Taken Innocence Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt