2. Kapitel Ein Abend mit einer Überraschung

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"Aurora kommst du runter, es gibt Abendessen", Jessica klopfte an der Tür und öffnete sie.
Ich saß immer noch auf dem Bett und stützte meinen Kopf mit meinen Händen. Als unsere Blicke sich begegneten, verlangsamte sich die Zeit.
Ich hörte meinen Herzschlag, die Umgebung wurde unscharf. Der Zeiger der Wanduhr hüpfte immer langsamer zur nächsten Sekunde. Mein Atem ging stoßweise. Jessicas Augen weiteten sich sehr langsam. In ihrem Blick lagen Erstaunen und auch Unglauben.

Jessica war es, die den Augenkontakt unterbrach, wir beide keuchten.

Was war gerade passiert?

"Es gibt Essen!" Marie rief von der unteren Etage. Jessica schüttelte verwirrt den Kopf. "Komm", sie hielt mir ihre Hand hin. Ich nahm sie zögernd an.

Als wir runter gingen, standen schon drei Teller mit Lasagne auf dem Tisch. Wir setzten uns hin und aßen stillschweigend.

"Kannst du mir erklären, wie du den Schulverweis bekommen hast?" Marie schaute mich an und meine Welt brach in Scherben. Mit dieser unbedachten Frage löste sie eine Lawine an Emotionen aus, die ich kaum noch kontrollieren konnte. Ich sprang auf, rannte die Treppe hoch, schloss die Tür, von meinem Raum, und ließ mich an der Tür herunter gleiten, stille Tränen liefen über mein Gesicht.

Wieso sollte ich jetzt darüber reden? Mir würden dann nur wieder Vorwürfe gemacht werden, wie sinnlos mein Leben ist, ich war ein Nichts in dieser Familie. Wenn ich etwas sagte, wurde mir nie Gehör geschenkt. Ich wurde immer nur als das 'schwarze' Schaf der Familie angesehen, aber nie als eigenständige Person. Bei gleicher oder selbst besserer Leistung wurde mein angeblicher Bruder immer vorgezogen. Ich konnte so nicht mehr leben, immer im Schatten anderer.

Es klopfte an der Tür. "Aurora, es tut mir leid, das war eine unbedachte Frage. Ich weiß, was in diesem Verweis drinnen steht, aber ich möchte deine Sicht erfahren, bitte rede. Wir werden nicht mit Vorwürfen auf dich einreden", die beruhigende Stimme von Marie kam von der anderen Seite der Tür.
"Wirklich nicht?" In meinem Hals hatte sich ein Kloß gebildet.

Meinte sie das ernst?

"Nein, keine Vorwürfe, komm runter, wenn du dich beruhigt hast." Ich hörte ihre Schritte, die die Treppe herunter gingen.

Konnte ich über meinen Schatten springen und erzählen, was wirklich passiert ist? Meinte sie es wirklich ernst, dass sie mir Gehör schenkte? Sah sie mich nicht als 'schwarzes Schaf' an?
Nein, noch wusste ich nicht, was hier gespielt wird.

Ich schaute zur Türklinke hoch und bemerkte einen Schlüssel. Mein Instinkt sagte mir sofort zu zuschließen, aber mein Bauchgefühl sagte eindeutig*nein*.
Ich atmete tief aus, stand langsam auf und setzte mich auf den Stuhl, der am Schreibtisch stand und schaute raus. Ich versank in meinen Gedanken.

Ich schrak hoch, als eine Hand meine Schulter berührte. "Du bist nicht mehr heruntergekommen und ich habe mir Sorgen gemacht."
Jessica hatte ihre Hand auf meine Schulter gelegt.
Meine Augen fühlten sich verquollen an.
"Ich wollte nicht einfach so reinkommen, ich habe sogar geklopft, aber du hast nicht reagiert und dann habe ich mir wirkliche Sorgen gemacht."
Ich antwortete nicht, sondern schaute aus dem Fenster raus. Es war schon dunkel geworden. Wie lange hatte ich bitteschön geschlafen? Es war bis jetzt nicht mehr vorgekommen, dass ich durch geschlafen hatte. Immer Albträume über Albträume.

"Möchtest du darüber reden? Es scheint dich wirklich zu belasten."
"Was würde das bringen, ihr könnt mir nicht helfen. Den Schulverweis habe ich verdient, also bitte lasst mich in Frieden. Was da drinnen steht, ist wahr", meine Stimme war nur ein Hauch. Es tat mir weh, jemanden anzulügen, aber ich wollte endlich meine Ruhe haben.
"Meine Menschenkenntnisse kannst du nicht entkommen, ich weiß, dass du lügst. Also bitte sag die Wahrheit." Jessica drückte meine Schulter.
"Ich kann nicht, da man mir eh nicht glauben würde", schluchzte ich.
Auf einmal wurde ich umarmt. "Hey, ich merke, dass du ein Vertrauensproblem hast. Es ist okay."
Mir liefen Tränen übers Gesicht und ich fing bitterlich an zu weinen.

Nach einer Weile waren meine Tränen versiegt. Jessica hielt mich in einer Umarmung.
"Besser?" Jessicas Stimme war beruhigend. Ich nickte nur zaghaft. "Mich haben immer alle davon gestoßen, wenn ich meine Fassung verloren habe." Ich versuchte es, als eine Tatsache klingen zu lassen.
Jessica drehte den Stuhl, sodass wir uns anschauten.
"Weißt du, es ist in Ordnung. Marie und ich wissen, dass dein 'Vater' dich immer bestraft hat, wenn du die Fassung verloren hast. Du bist jetzt nicht mehr bei ihm, du bist hier auf Jorvik, er kann dir nichts. Versuche dich, uns gegenüber zu öffnen. Wir werden versuchen, dir zu helfen, wo wir können."
"Wirklich?"
"Ja"
"Aber warum?" Ich war verwundert, niemand gab seine Hilfe ohne Gegenleistung.
"Mmh, lass es mich so geradeaus sagen, du bist meine verschollene Schwester und ich möchte die Zeit, die wir getrennt voneinander verbracht haben, aufholen." In Jessicas Stimme schwang ein warmer Ton mit.
"Ich bin deine Schwester? Wir sehen uns aber überhaupt nicht ähnlich", antwortete ich skeptisch und schaute in ihre Augen.
Ihre Augen hatten einen Grünton, der wie eine saftige grüne Wiese in verschiedenen Nuancen aussah.

War das wieder einer dieser Scherze, wo man mir etwas vorgaukelte und danach hinter meinem Rücken über mich lästerte?

"Ja, ich bin deine Schwester. Wir haben nur verschiedene Väter." Jessica schaute mich auch an.

"Ich muss das verdauen", ich senkte meinen Blick und fing an, meine Hände zu kneten. Jessica legte ihre Hände auf meine. "Das ist verständlich, ich würde jetzt ins Bett gehen. Du kannst jederzeit reinkommen."
"Danke." Ich wusste nicht, warum ich 'danke' sagte, aber irgendwie fühlte es sich richtig an.
Jessica nickte mir zu, drückte meine Hände und ging aus dem Raum.

Ich saß noch eine ganze Weile auf dem Stuhl und starrte die Tür an. Als mir die Augen zufielen, tappste ich langsam zum Bett und fiel todmüde hinein. Kaum schlief ich ein, jagten mich die Albträume.

Der 4. GeneralWo Geschichten leben. Entdecke jetzt