Kapitel #6

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Der Schleier um mich herum blieb stets erhalten und ließ mich meinen Bruder mit leeren Augen anstarren, wie er langsam auf mich zu kam. Ein Teil von mir hatte immer noch nicht verarbeitet, was so eben passiert war und genau dieser Teil übernahm die Kontrolle über meine Fähigkeiten.

Aus den Augenwinkel bemerkte ich wage, wie Justin sich auf sein Motorrad schwang und ungeduldig wartete bis Ashley, a.k.a. die Schulschlampe, sich ebenfalls hinter im platzierte, ehe er den Motor aufheulen ließ und seinen Fuß von der Seite entfernte. Ich war jedoch viel zu verwirrt, um mich darauf zu konzentrieren, und registrierte gar nicht, was genau da gerade vor sich ging.

Ich sah nur meinen Bruder, der mich jetzt verlegen angrinste und unsicher eine Hand in seinen blonden Locken verbarg.
"Willst du deinen Bruder nicht umarmen? Oder wenigstens begrüßen?", fragte er gespielt beleidigt. Sofort erwachte ich aus meiner Schockstarre und schlang mit einem breitem, nur halb ehrlichen Lächeln meine Arme um seine schmale Hüfte.
"Was machst du hier?", fragte ich ehrlich überrascht, ehe ich mich etwas in seinen Armen entspannte und die Gedanken an Justin vorerst verdrängte. Ich würde ihn später fragen, woher er Justin kannte.
"Ich dachte, ich komme euch mal eine Woche besuchen!", erklärte Sebastian mir nun deutlich beruhigter. Ein kleines Lächeln hatte sich auf seine Lippen geschmiegt und drückte sich nun spürbar gegen meinen Haaransatz.

Mein Bruder studierte Medizin Ungarn. Er hatte für ein Studium in Deutschland nicht den passenden NC gehabt, weshalb meine Eltern ziemlich viel Geld in dieses Auslandsstudium steckten. So viel Geld, dass diese Möglichkeit für mich nicht mehr bestand. Ich musste für meinen Traum hart kämpfen, während er seine Jugend mit feiern verbracht hatte.

Sebastian löste sich sanft wieder von mir und lächelte dann über meine Schulter hinweg sanft meine Freundinnen an. Maria wurde augenblicklich rot, als sie seinen Blick auf sich auch nur für eine Milisekunde spürte. Sie hatte schon immer ein wenig für meinen Bruder geschwärmt und seit er Arzt werden wollte war es nur noch schlimmer geworden.

Automatisch wanderte mein Blick wieder nach vorne und glitt über Sebastians Schulter hinweg auf den Parkplatz um nach dem Punk Ausschau zu halten. Justin saß immer noch mit seiner Maschien und Ashley auf dem Parkplatz fest und wartete ungeduldig darauf, dass die Autos ihn durchlassen würden. Er hatte es wohl nicht für nötig gehalten, sich oder Ashley einen Helm aufzuziehen, weshalb seine Haare ihm leicht strähnig ins Gesicht fielen. Auch seine Snapback war er auf mysteriöse Art in den letzten Minuten losgeworden.

Während ich dort so stand und ihn ängstlich ansah, schlang Ashley ihre dreckigen Arme um seinen Bauch und drückte ihre Brüste somit auffällig nah an seinen Rücken. Auch Justin müsste dies gespürt haben, denn er grinste sie kurz über die Schulter hinweg an und zwinkerte ihr gleichzeitig so zweideutig zu, dass selbst ich es aus der Entfernung bemerkte. Sofort erlitt ich einem Brechreiz, den ich notgedrungen unterdrückte.

"Guck ihn nicht an!" Die Stimme meines Bruders war so scharf, dass ich augenblicklich zusammenzuckte und ihn leicht verängstigt anstarrte.
"Dieser Junge ist kein guter Umgang für dich. Halt dich von ihm fern!", wiederholte er sich auf merkwürdige Art und weise wütend. Anstatt einer Antwort starrte ich meinen Bruder einfach nur weiter mit einer Mischung aus Schock, Angst und Verwirrung an.
"Ich meine es ernst! Halte dich von ihm fern!", drängte Sebastian mich erneut. Mit diesem Mal wurde es mir zu viel; nur weil er mein Bruder war, hatte er mir nicht zu sagen, was ich zu tun und zu lassen hatte!
"Aber du oder was?", spottete ich mit vor Wut unterdrückter Stimme. Sebastians Augen wurden innerhalb von Sekunden unbeschreiblich dunkel und sein Körper schien sich mit jeder Faser anzuspannen, die er besaß, ehe er seine vor Wut geballten Fäußte in seine Hosentaschen steckte.
"Steig ein!", fuhr er mich nur noch sauer an und deutete mit seinem Kopf auf sein Auto, das vielleicht fünf Meter hinter dem Platz stand, an dem Justin bis eben noch geparkt hatte.

Wütend ging ich auf genau diese zu, stieg ein und schmiss die Tür mit vollem Elan hinter mir zu, wodurch der ganze Wagen ein wenig wackelte. Was erlaubte sich mein Bruder eigentlich? Ich war 17; er konnte mir keine Vorschriften mehr machen. Ich hatte zwar nicht vor, Justin erneut zu treffen-wenn man unser Aufeinandertreffen überhaupt als richtiges Treffen bezeichnen konnte-aber ich ließ mich denoch nicht besonders gerne kontrollieren.

Ein paar Sekunden später hörte ich, wie auch Sebastian auf der Fahrerseite einstieg und leise und doch voller ehrlichem Kummer aufstöhnte. Beinah ein Jahr war er jetzt weg gewesen und kaum war er 3 Minuten wieder da, hatten wir auch schon den Stress. Beschämt ließ ich den Kopf etwas hängen und sah zu wie er das Auto schweigend vom Parkplatz lenkte.

Während wir davonfuhren sah ich auf die Spiegelung der Schule, die sich im Seitenspiegel widergab und immer kleiner und kleiner wurde. Immer noch sagte niemand von uns ein Wort, wodurch meine Gedanken so weit abstreiften, dass ein schlechtes Gewissen bekam, weil ich mich nicht mehr bei Maria und Scarlett verabschiedet hatte.

"Hör zu, das war nicht so gemeint, ok? Ich bin dein großer Bruder und es ist meine Aufgabe auf dich aufzupassen...", setzte mein Bruder zu einer Entschuldigung an, die ich irgendwie nicht so recht annehmen wollte. Stattdessen gab ich nur einen erstickten Laut von mir, der nicht besonders sexy klang. Stöhnend fuhr Sebastian sich durch die blonden Locken und erst jetzt fing ich an ihn genauer zu mustern.

Ein Jahr und er hatte sich fast nicht verändert. Seine blonden Locken tanzten ihm immer noch wild auf dem Kopf herum und umspielten dabei sein Gesicht. Während die vordersten Strähnen seine Stirn grob bedeckten, standen die hinteren einfach wild ab und nahmen seinem Kopf die runde Form. Die leichten Sommersprossen auf seiner Nase glänzten im Sonnenschein und seine Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammen gezogen, der sich an den Rändern leicht kräuselte. Ich kam einfach nicht umhin, unser Aussehen miteinander zu vergleichen. Definitiv sah man uns an, dass wir Geschwister waren. Wir hatten einfach den selben Mund und die selbe Haarfarbe. Meine Haare hatten ebenfalls Locken, auch wenn sie nicht so ausgeprägt waren wie Sebastians und ich meinen jeden Morgen mit einem Lockenstab nachhalf. An sich hatte er viele Merkmale, um die ich ihn tagtäglich beneiden könnte.

Plötzlich sah er mich aus hellblauen Augen, die meinen zum verwechseln ähnlich waren, verwirrt an.
"Habe ich was im Gesicht?", fragte er verwirrt, ehe er sich wieder der Straße zuwidmete und kurz mit der Hand, die nicht das Lenkrad umschlungen hielt, über die feine Haaut seiner Wangen strich.
"Nein. Mir ist nur aufgefallen, dass du dich kaum verändert hast.", erwiderte ich flüchtig und doch ehrlich. Er lachte als Antwort nur kurz auf, was mir jedoch völlig ausreichte. Die Stimmung zwischen uns schien sich langsam wieder aufzulockern und ich war sehr dankbar dafür, denn egal wie es zwischen uns stand; ich liebte ihn mehr als alles andere auf der Welt.
"Ich bitte dich! Ich bin viel erwachsener geworden!" Jetzt war ich dran los zu prusten. Sebastian und erwachsen; oh bitte, dieses Stadium würde er nie erreichen.

Mit einem bösen Blick hielt er an einer nahliegenden Ampel an und hob tadelnd einen Finger in die Luft, doch als sein Blick an mir vorbei glitt, wurde seine Miene sofort wieder ernst. Automatisch folgte ich seinen Blick nach draußen und wünschte mir augenblicklich ich hätte es einfach sein gelassen. Direkt auf der Spur neben uns stand ein Motoros, dessen Fahrrad niemand anderes als Justin war. Dieser Junge schien einfach nicht wieder aus meinem Leben verschwinden zu wollen. Ashley, deren Hände inzwischen unter sein weißes Shirt gegangen waren, hatte er immer noch hinter sich, während er interessier zwischen uns beiden hin und her sah und allmählich zu begreifen schien, was Sache war.

Seine Miene wurde immer kälter und blieb schlussendlich mit einem provozierendem Lächeln bei meinem Bruder hängen. Dieser sah alles andere als glücklich aus; er wirkte gerade zu gefährlich, was mir etwas Angst einjagte. Dennoch entschied ich mich dazu, ihn nun doch danach zu fragen. Ich brauchte diese Antwort einfach!

"Sebastian? Woher kennst du Justin?", flüsterte ich vorsichtig. Die Miene meines Bruders wurde mit einem Schlag noch kälter als sie es ohnehin schon war.

frightening, completedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt