"Kommst du?", wisperte Shawn mir von hinten zu. Seine Stimme klang merkwürdig belegt und ließ mich zusammenzucken. Zögernd drehte ich mich zu ihm um und sah direkt in sein angespanntes Gesicht, das so gut seine unterdrückten Gefühle widerspiegelte. Er biss die Zähne so fest zusammen, dass seine Wangenknochen hervortraten und in seinen Augen spiegelte sich mein eigener Schmerz wieder. Der Schmerz, den ich bei Justin empfand und zu wissen, dass ich die selben Gefühle bei ihm auslöste, brachte mich regelrecht um.
Vorsichtig lief ich auf ihn zu und legte meine Hände auf seine Schultern, weshalb ich mich eicht auf die Zehenspitzen stellen musste.
"Hör zu...", begann ich ohne Idee, wohin das hier überhaupt führen sollte. Ich musste einfach improvisieren, die Hauptsache war, dass ich endlich etwas unternahm. "Es tut mir so unendlich leid wie das zwischen uns gelaufen ist... Und wenn du noch Zeit brauchst, bevor du Zeit mit mir verbringen kannst, akzeptiere und vor allem respektiere ich das. Ich würde mir nur wünschen, dass es irgendwann anders ist; dass ich dich irgendwann meinen Bruder nennen kann-nicht nur weil wir es indirekt sind, sondern auch weil unsere Freundschaft eine so enge Bindung aufstellen wird.", sprach ich betont langsam und feinsäuberlich darauf bedacht, dass meine Nachricht richtig ankam.
Shawn sah mich daraufhin nur zögerlich an."Ich...Man sollte so was nicht für seine Schwester empfinden! Du wirst niemals so etwas wie eine Schwester für mich sein. Du wirst das Mädchen sein, das mir zum ersten Mal das Herz gebrochen hat" Seine Worte lösten einen nicht geahnten Schmerz in mir aus. Ich sollte einfach nicht dieses Mädchen sein und auch keins von den noch kommenden.
Unfähig ihm weiter in die Augen zu sehen, richtete ich meinen Blick auf den Boden unter unserem Füßen."Hey, das heißt nicht,dass wir niemals befreundet sein können. Ich kriege das schon hin! Aber versetzt dich in meine Lage. Wenn da gerade Justin im Bus gestanden hätte und dich umarmt hätte; dir wäre es nicht besser ergangen."
Damit sprach er genau die Worte aus, vor denen ich mich gefürchtet hatte. Nicht den ersten Teil sondern den Zweiten. Es hatte ihn verletzt, dass ich so nah bei ihm war. Es hatte ihn verletzt, dass meine Arme sich um seinen Körper geschlungen hatten. Ich hatte ihn verletzt.Meine Hände ruten immer noch auf seinen Schultern, ich bemerkte wie er die Muskeln unter meinen Fingern zucken ließ und ein kleines Lächeln huschte dadurch über mein Gesicht. Ich wollte dies hier nicht missen. Bis vor 2 oder 3 Tagen habe ich noch Hass ihm gegenüber empfunden, aber eigentlich wollte ich ihn nicht hassen. Ich wollte ihn als meinen Bruder gewinnen; als meinen Freund.
"Aber heute schaffst du es noch nicht?", hackte ich nach und vergrub meine Finger hilfesuchend in seiner Haut. Ich atmete einmal tief durch bevor ich es schaffte, ihm erneut in die Augen zu sehen. Mit wässrigen Blick sah er mich an und dieses Mal würde ich nicht einmal auf die Idee kommen, ihn als Pussy zu bezeichnen. Ich konnte zu gut nach empfinden, wie er sich fühlte und nur Leute wie Justin könnten so etwas vielleicht unterdrücken-kalte Leute, ohne Gefühle.
"Ich habe gedacht ich würde es schaffen...", seine Stimme brach ab."Aber...ich kann es noch nicht. Ich weiß, ich habe zugesagt und ich dachte auch es würde klappen, aber... ich schaffe es noch nicht"b Die erste Träne rannte seine Wange hinab und fiel auf unsere Füße. Entschlossen wischte ich die hinterbliebene Spur mit meinem Daumen weg; er sollte nicht weinen, nicht wegen mir.
"Sag mir bitte einfach Bescheid, wenn es geht", raunte ich ihm schwach zu. Er nickte nur leicht, doch schaffte es nicht mir weiterhin in die Augen zusehen.
Ein letztes Mal zog ich ihn in meine Arme und atmete seinen Geruch ein. Er hatte bei weitem nicht die Wirkung auf mich, die Justin hatte, aber er bedeutete mir dennoch viel. Auch wenn ich nicht wusste, woher diese Gefühle so plötzlich kamen.
Widerstrebend ließ ich ihn wieder los und mit einem letzten, traurigen Lächeln ging ich; ließ ihn einfach da stehen und lief nach Hause. Wir hatten das selbe Ziel vor Augen und hätten den Weg zusammen gehen können, doch ich entschied mich ihn in Ruhe zu lassen, da er meine Nähe definitiv nicht mehr wollte.
X
Zuhause angekommen lief ich sofort in mein Zimmer und setzte mich auf meinen Balkon. Der Platz hier gefiel mir. Du hattest sowohl den Ausblick über den Garten, als auch die hohen Häuser in der Skyline. Es war einfach etwas besonderes und konnte dich von der Außenwelt abschirmen, sodass nur die eigenen Gedanken blieben.
Mindestens 2 Stunden saß ich so dort und träumte vor mich hin; träumte davon, irgendwann einmal bis zu dieser Skyline zu fahren und abzuhauen, ohne jemals zurückzukommen.
Ich ließ die frische Luft weiter durch meine Haare streifen und schloss lächelnd die Augen. Hoffnung machte sich in mir breit, Hoffnung irgendwann einmal frei von alldem zu sein und ganz weit weg, vielleicht in Los Angeles, ein neues Leben anzufangen. Solche Träume waren vielleicht ungewöhnlich, doch genau dies wünschte ich mir schon so lange.
Der Knall einer zufallenden Autotür riss mich irgendwann aus meinen Gedanken. Sofort blickte ich hinunter in unseren Garten. Mitten auf dem, von David säuberlich gepflegten, Rasen stand ein Auto mit mattschwarzen Lack. 2 Personen waren gerade aus diesem herausgestiegen und unterhielten sich aufgebracht miteinander. Die eine hatte mir den Rücken zugedreht, doch ich konnte an seiner Statur festmachen, dass es Shawn war. Die andere Person blieb mir jedoch unbekannt. Es war ein Mann um die 30 Jahre, er trug einen teuer aussehenden schwarzen Anzug, der ihn irgendwie mysteriös wirken ließ und eine schwarze Ray-ban, die seine Augen verdeckte. Seine braunen Haare waren eng an der Kopfhaut zurückgegelt, was sie fettig aussehen ließ, und eine Zigarette heftete sich in seinen Mundwinkel. Immer noch redete er mit tiefer Stimme auf Shawn ein, doch ich konnte seine Worte hier oben nicht richtig verstehen.
Irgendetwas an diesem Mann sagte mir, dass ich ihn lieber nicht treffen wollte; er wirkte brutal.Säuberlich darauf bedacht, kein Geräusch von mir zu geben, lief ich zurück in mein Zimmer und verriegelte die Tür hinter mir. Ein ungutes Gefühl durchdrang meinen Körper und ließ mich nicht mehr los. Mit zitternden Händen ließ ich mich auf mein Bett fallen und starrte an die Wand. Ich hatte keine Ahnung, was da gerade vor sich gegangen war, aber das ungute Gefühl in meinem Bauch blieb. Wer auch immer dieser Kerl war, Shawn sollte lieber nichts mit ihm zutun haben!