Die Herbstferien begannen und mit jedem Tag der verstrich rückte der Tag an dem ich auf die St.pauls Schule wechseln sollte näher.
Ich hatte allerdings nicht viel Zeit darüber nachzudenken, weil ich mein Versprechen mir einen Job zu suchen gehalten hatte. Jeden Tag arbeitete ich nun also bei dem Supermarkt um die Ecke, räumte Regale ein, kassierte und bediente Kunden.
Einmal begegnete ich Karo im Supermarkt, einem Mädchen aus meiner früheren Schule, die gut mit Cecilia befreundet war. Sie lief mit einem Jungen den ich nicht kannte an mir vorbei, als ich grade Konserven einsortierte und sah mir kurz in die Augen. Wir sagten nichts, aber ich wusste das sie mich erkannt hatte und ich wusste auch, dass sie nun dem ganzen Jahrgang erzählen würde, dass ich mit fettigen Haaren und müdem Gesicht Regale im Supermarkt einräumte.
Alle würden inzwischen wissen, dass ich von der Schule geflogen war. Alle würden lachen und schlecht über mich reden. Zum ersten Mal verspürte ich den Wunsch wirklich etwas aus mir zu machen. Damit sie ihn zehn Jahren meinen Namen in der Zeitung lesen und sich wundern konnten. Natürlich war das nicht die edelste Motivation, aber immerhin.
Ich arbeitete so viele Stunden wie ich konnte und als ich auch noch eine Stelle als Zeitungsverteilerin fand, tat ich das ebenfalls. Am Ende der Ferien hatte ich etwas über tausend Euro beisammen. Das war zwar nur ein Bruchteil von dem was meine dumme Aktion meine Eltern gekostet hatte, aber es war ein Anfang. Meine Mutter war zufrieden mit mir.
,,Du machst dich gut, mijita." Sagte sie und strich mir über den Kopf. ,,Hast du eigentlich schon angefangen zu packen?"
Ich hatte ihr von dem was Hannah wiederfahren war erzählt und obwohl die Geschichte sie genauso geschockt hatte wie mich hatte sie sich davon nicht umstimmen lassen.
,,Das was dem armen Mädchen passiert ist, ist furchtbar, mijita." Sagte sie. ,,Es ist eine schreckliche Geschichte und es wäre mein größter Alptraum, dass dir jemals so etwas passiert. Aber ich sehe nicht warum es die Schuld der Schule sein soll! Hannah ist weggelaufen, mitten im Winter, barfuß, ohne Jacke! Solange du so etwas nicht machst solltest du in Sicherheit sein, hm?"
,,Meinst du nicht, dass sie etwas dazu bewogen hat wegzulaufen?" Hatte ich gefragt.
Meine Mutter hatte traurig mit den Schultern gezuckt. ,,Ich habe mit Nils über den Fall geredet. Er war einer der Anwälte die vor drei Jahren die Schule in dem Fall vertreten haben. Er sagt, dass alle Anzeichen darauf hindeuten, dass es Selbstmord war. Verstehst du, Hannah wollte erfrieren. Man hat bei der Autopsie lauter Narben auf ihren Armen und Beinen gefunden. Hannah hat sich geritzt. Laut Zeugenaussage ging es genau darum auch in diesem Streit mit ihrer Freundin. Es ging ihr mental schon lange nicht mehr gut."
,,Oh." Machte ich betroffen. Die Geschichte wurde wirklich mit jeder neuen Information schlimmer. War es denn so schwer zu verstehen, dass ich nicht grade darauf brannte auf eine Schule zu gehen auf der etwas derart Düsteres passiert war?
Anscheinend schon. Denn der Tag des Aufbruchs kam, ohne das meine Mutter irgendwas getan hatte um ihn zu verhindern.
Ich musste um fünf Uhr morgens aufstehen. Sie hatte mir tatsächlich rausgelegt was ich anziehen sollte, als wäre ich sechs und nicht sechzehn Jahre alt, aber ich beklagte mich nicht. Dazu war ich viel zu nervös.
Davon abgesehen sah ich in dem blauen Rock, der weißen Bluse und den schwarzen Kniestrümpfen gar nicht mal schlecht aus. Sehr britisches-Schulmädchen-haft. Meine Mutter dachte sicherlich, dass ich damit bei den Lehrern einen braven Eindruck machen würde, aber die würden den Wolf im Schafspelz schon noch früh genug erkennen.
In meinem Koffer befanden sich Zahnbürste, Hygieneartikel, Klamotten, Schulsachen und ganz unten vier Päckchen Zigaretten - mit besten Grüßen von Mike. Handy und Kopfhörer hielt ich in der Hand.
Meine Mutter brachte mich zum Bahnhof. Sie musste arbeiten, konnte mich also diesmal schlecht bis in die Schweiz fahren. Das war in Ordnung. Auf diese Art konnte ich all meine Konzentration darauf wenden pünktlich in die richtigen Züge und Busse zu steigen und konnte das ausflippen wegen der neuen Schule auf später verschieben.
Wir umarmten uns zum Abschied und sie sagte mir ich solle brav sein und mich anstrengen und wir würden uns zu Weihnachten wiedersehen. Dann gab meine Mutter mir noch zwei große Boxen mit. In einem war mein Frühstück, in der anderen mein Mittagessen. Dazu kamen noch eine Tafel Schockolade und zwei Packungen meiner Lieblingschips. Das war ihre Art "Ich hab dich lieb" zu sagen.
Der Zug fuhr ein. Meine Mutter drückte mir nochmal brutal fast die Luft ab, dann scheuchte sie mich durch die Tür.
,,¡Vamos! Mija, nicht dass er ohne dich abfährt!"
,,Beruhig dich, Mama, der fährt erst in zwanzig Minuten ab."
,,Okay. Pues... Dann ist ja gut. Hast du alles? Hast du deine Zahnbürste? Schwimmsachen? Taschenrechner? Genug Stifte?" Sie klang so dringlich als wäre von diesen Dingen mein Überleben abhängig.
,,Tengo todo." Sagte ich. Hab alles.
,,Und dein Pass? Hast du deinen Pass?"
,,yo también tengo eso." Den hab ich auch.
,,Gut. Gut, mija. Dann steig jetzt ein, ¡Vaya pues! Und ruf mich an wenn du da bist, ja?"
,,Sí, Senõra."
Sie blieb vor dem Fenster stehen und winkte, weinte und lächelte abwechselnd bis der Zug abfuhr. Ich sah zu wie sie kleiner wurde. Eine ferne Gestalt im schicken Mantel auf dem fast menschenleeren Bahnsteig.
Der Zug war ebenfalls fast menschenleer, schließlich war es Sonntagfrüh. Nur ein paar Pendler mit Aktentaschen, bereit für eine neue arbeitsreiche Woche, und ein paar Omis mit Rollatoren befanden sich bei mir mit im Wagen.
Ich versuchte noch ein wenig zu schlafen, aber daran war nicht zu denken. Stattdessen hörte ich Musik und sah aus dem Fenster. Als ich Hunger bekam aß ich mein Frühstück, konnte es vor Aufregung aber kaum unten behalten.
Die Stunden vergingen. Wir hielten an der Grenzstation. Zwei Polizisten stiegen zu, um bei jedem flink die Pässe zu kontrollieren. Ich hatte meinen schon die ganze Zeit in der Hand gehalten. Meinen irischen Pass mit der goldenen Harfe drauf. Der neigte dazu bei europäischen Kontrolleuren besser anzukommen als mein kolumbianischer.
Der Polizist der mich kontrollierte hatte hellbraune Haare und breite Schultern. Er sah sehr gut aus. Mit einem Nicken überflog er meinen Pass und wünschte mir dann auf Englisch eine gute Zeit in der Schweiz. Ich sagte thank you und korrigierte ihn nicht. Er hatte so stolz auf seine Sprachkenntnisse geklungen.
Wir fuhren weiter und die nächste Station war meine. Ich stand viel zu früh auf, harrte Ewigkeiten an der Tür herum, bevor wir endlich hielten und mich diesige Herbstluft empfing. Vom Bahnhof aus sollte ich einen Bus nehmen. Zum Glück fand ich die Station ohne Probleme und hatte sogar Zeit eine dringend benötigte Zigarette zu rauchen bevor der Bus kam.
Ich kaufte mein Ticket direkt beim Fahrer. Er sah neugierig auf meinen riesigen Koffer, stellte aber keine Fragen. Mit dem Bus fuhr ich bis zur Endstation. Die war im dem Dorf in dem meine Mutter und ich vor zwei Wochen übernachtet hatten.
Ich erspähte vom Fenster aus die Herberge und dachte an Hannah. Wie sie sich wohl gefühlt hatte, als sie auf das Internat geschickt worden war? War sie auch so nervös gewesen?
Vom Dorf aus sollte mich jemand von der Schule abholen. Das war der Teil der Reise der mir am meisten Sorge bereitet hatte. Was wenn wir uns nicht fanden? Würden der Fahrer und ich Smalltalk führen müssen? Würde ich diese furchtbaren Kurven auf der Bergstraße heil überstehen?
Meine Sorgen stellten sich als unbegründet heraus. Das Auto war bereits an der Bushaltestelle geparkt. Ich erkannte es mühelos daran, dass der Schulname in weißen Buchstaben darauf gedruckt war. Die Fahrerin war die grauhaarige Frau aus dem Sekretariat. Sie nahm mich wortlos in Empfang und drehte auf der Fahrt das Radio auf anstatt mit mir zu reden, wofür ich dankbar war. Die Kurven nahm sie so flink und sanft, als wäre sie die Strecke schon tausend Mal gefahren, was wahrscheinlich auch stimmte.
Wir hielten vor der Schule. Sie sprach das erste Mal. Ihre Stimme war monoton. ,,Wir sind da."
,,Mmh."
Ich atmete tief aus bevor ich den Anschnallgurt löste. Jetzt war es so weit. Ob ich wollte oder nicht, dass neue Kapitel meines Lebens hatte unweigerlich begonnen.
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Schule der Alpträume
Teen FictionDie 16- jährige Ifa ist ein Problemkind. Laut, handgreiflich, unberechenbar. Als eine Situation eskaliert und Ifa vor Gericht muss, schickt ihre Mutter sie auf die St. Pauls Ganztagsschule für schwer erziehbare Jugendliche. Ifa hätte fast den Fehler...