Besuch

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Andys Sicht:

«Hey, Caudwell, steh nicht wie ein Depp herum, komm und hilf mir!», rief ich, da mich gerade jemand angerempelt hatte, und ich sass nun auf dem Boden. Immer diese Hektik hier am Bahnhof. Owen eilte auf mich zu und richtete mich wieder auf.

«Ist gut, ich stehe», sagte ich, und er löste seine Hände von mir, nur um mir gleich darauf um den Hals zu fallen. «Und wie geht»s? Hast du diesen Vollpfosten in Rumänien vergessen können?» fragte er. Natürlich hatte ich es ihm geschrieben.

«Mehr oder weniger, ja. Los, komm, der Zug fährt schon gleich», sagte ich und zog ihn an der Hand durch den Bahnhof. Einige Zeit später waren wir dann in der Nähe unserer Farm.

«Müssen nur noch ein Stück gehen», teilte ich Owen mit, und wir gingen ein kleines Stück über die Felder. Schliesslich liefen wir durch die Zauberbarriere, und man sah unsere Farm.

«Wow, die ist ja riesig», sagte Owen erstaunt. Stimmt, er war noch nie hier. In meinen ersten Sommerferien nach meinem ersten Jahr war ich bei ihm.

Ich lief Richtung Eingang, und sofort kam wieder Bellen entgegen. Bucky, aber auch einige Crups. «Huch», sagte Owen und trat einen Schritt hinter mir. «Wolltest du gerade mich als Schutzschild benutzen?» fragte ich lachend.

«Würde ich nie tun», sagte er. «Wieso lässt du die verdammten Hunde frei? Wenn die bis ins Dorf kommen, haben wir ein Problem», hörte ich den Ruf von Chris.

«Ich bin im Büro», rief Shawn, und ich grinste nur. Da kam Chris heraus, bewaffnet mit gezücktem Zauberstab. Owen trat noch einen Schritt zurück. Chris senkte den Zauberstab, als er mich sah. Ich lief auf ihn zu, die Hunde liefen auch sofort los und rannten wieder hinein. Owen folgte mir zögernd.

«Das ist dein Bruder?» fragte er erstaunt. «Du hast ihn schon gesehen», sagte ich nur. «Ja, aber er ist mehr Muskelmasse als Mensch», sagte er eingeschüchtert.

«Ich nehme das mal als Kompliment», sagte Chris lachend. Owen lief rot an. «Hey, ich bin Chris», sagte Chris und schlug bei Owen ein. «Hallo», sagte Owen nur. Wir liefen hinein.

«Shawn, Owen ist hier», rief Chris. «Komme», rief Shawn herunter. «Ist Shawn auch so ein... Kasten?» «Nein, er sieht mehr aus wie ein Schwächling», sagte Chris und lief in die Küche. Ich folgte ihm, und Owen hörte mir auch.

Wie automatisch stemmte ich mich auf die Küchenablage und setzte mich auf die Küchentheke. «Willst du auch was trinken?» fragte Chris an Owen gewandt. «Gerne, ja», sagte Owen.

Chris drückte mir und ihm ein Bier in die Hand. «Hast du überhaupt gefragt, ob er auch Bier trinkt?» fragte Shawn, der nun auch in die Küche kam.

«Alles gut, ich nehme gerne ein Bier», sagte ich Owen. «Siehst du, Bier schlägt niemand aus.» Owen setzte sich zu mir. «Wenn er ein Schwächling ist, was bin dann ich?» murmelte er.

«Mach dir keinen Kopf», winkte ich ab. «Hier, die haben schon das zweitemal nachgefragt», sagte Shawn und drückte Chris ein Pergament in die Hände.

«Doch nicht wegen den Hörnern?» fragte ich. «Nein, nein, die wollen die Occamy-Eier», sagte Chris. «Natürlich, wir verschenken die Occamy-Eier. Natürlich», spotete ich. «Die sind doch wertvoll, oder nicht?» fragte Owen mich.

«Ja, zeig dir später welche», sagte ich und öffnete das Bier. Ich reichte Owen den Flaschenöffner weiter. «Das Drachenreservat hat dir auch noch einen Brief geschrieben. Solltest du beantworten. Keine Sorge, er ist freundlich und wohlwollend geschrieben», sagte Shawn, drückte mir den Brief in die Hand und zog mir gleichzeitig das Bier weg. Dann trank er stinkfrech davon. «Hey, das war mein...» reklamierte ich, und Chris drückte mir gleich wieder eins in die Hand.

«Du solltest keinen Alkohol trinken. Du nimmst doch noch Medikamente», sagte Shawn. Ich kratzte mir verlegen am Kopf. «Sag nicht, du nimmst sie nicht mehr. Was... Chris, sag doch was», murrte Shawn.

«Ich wusste es», sagte er zögernd. «Shawn, mir geht es gut. Ich weiss, du machst dir nur Sorgen, und du meinst es nur gut. Aber mir geht es gut. Die Medikamente machten mich müde, und ich konnte mich kaum konzentrieren, also habe ich sie an Weihnachten abgesetzt. Chris und ich haben lange darüber diskutiert», sagte ich beruhigend.

«Und warum hast du mir nichts gesagt? Ich bin genau so dein Bruder, und du weisst ganz genau, dass dir Chris keinen Willen ausschlagen kann, weil ihm wichtiger ist, dass du deinen Willen kriegst, als dass du gesund bist, auch wenn das bedeutet, in den sauren Apfel zu beissen», wurde Shawn wütend, und das ist nicht gut. Wenn wir streiten, kommt das nie gut. Vor allem zieht er Chris mit ein. Entweder es heisst zwei gegen eins, was nicht gut ausgehen wird, oder alle gegen alle, was noch weniger gut kommen wird. Das Schlimmste ist wohl, wenn Chris und Shawn streiten. Das kommt des Öfteren vor, aber ich konnte ihre Streitigkeiten meistens schlichten. Aber wenn dann auch ich wütend bin, wird das nicht gut.

«Was soll das? Natürlich ist mir wichtig, dass Andy gesund ist. Mit ist auch wichtig, dass sie normal leben kann. Sie konnte sich kaum konzentrieren, wie sollte sie da in der Schule klarkommen, hier bei uns im Leben? Du hast nicht das Recht, mir so etwas zu unterstellen», sagte Chris wütend.

«Können wir das nicht in Ruhe klären?» fragte ich ruhig. «Halt dich da raus, Andy, das geht dich nichts an», sagte Chris, und da wurde auch ich wütend. «Natürlich geht es um mich. Jedes Mal, wenn ihr streitet, geht es um mich. Aber nie, nie bezieht er mich ein, nie fragt ihr nach meiner Meinung. Jedes Mal habt ihr bestimmt», sagte ich nun auch wütend.

«Du bist noch minderjährig, wir beide haben dein Sorgerecht. Das haben wir gemeinsam so ausgemacht, als Isi starb», sagte Shawn. «Dennoch geht es um mich, um mein Defizit», sagte ich wütend.

«Wir verstehen das besser als...» fing Chris laut an, doch ich unterbrach ihn noch lauter. «Ich habe ein Bein verloren. Ich bin diejenige, die als Krüppel durch die Welt geht. Und ihr, kein einziger von euch hat eine Ahnung, wie das ist. Also fragt. Ich gefälligst», sagte ich wütend.

«Also, eh... ich will mich nicht unbedingt einmischen, aber Andy ist viel aktiver geworden nach den Winterferien, viel aufgeweckter und viel mehr wie die Andy, die ich kennengelernt habe», sagte Owen. Er sah uns unsicher der Reihe nach an. «Was ist mit den Schmerzen?» fragte Shawn wieder ruhig.

«Je nachdem, was ich mache, aber die Prothese ist gut. Ab und zu nehme ich dennoch eine Schmerztablette am Abend, damit ich gut schlafen kann. Aber mir geht es ohne», sagte ich wieder. «Ich will, dass du mit uns sprechen kannst, okay, und wir nehmen dich ernst. Das tun wir wirklich», sagte Shawn sanft. «Wir wissen, dass du im Oktober 17 wirst. jedoch sehen wir immer wieder die schwer verletzte 13-jährige im Krankenbett, kreidebleich. Wir sehen das kleine Mädchen weinend in den Armen von Isi, weil sie einen Albtraum hatte. Weil sie wieder an den Autounfall erinnert wird. Du hast so viel Schreckliches gesehen und mitgemacht. Da haben wir nun mal das Gefühl, dass wir dich mit Samthandschuhen anfassen müssen, auch wenn das nicht so ist. Du bist nun mal unsere kleine Schwester», sagte Chris.

«Es ist menschlich», mischte sich nun wieder Owen ein, wir alle sahen verwirrt zu ihm. «Es ist menschlich, sich Sorgen zu machen, es ist menschlich, dass man das Gefühl hat, jemanden beschützen zu müssen, es ist menschlich, sich benachteiligt zu fühlen, und es ist menschlich zu streiten. Und meistens ist es bei nahestehenden Personen schlimmer», erklärte Owen.

«Ganz ehrlich, was hast du da für einen angeschleppt», murmelte Chris, und ich schlug ihm auf den Arm. «Ich habe ihn nicht angeschleppt», sagte ich empört. «Hab ich was Falsches gesagt?» fragte Owen unsicher. «Nein, das ist vollkommen wahr, was du gesagt hast. Chris ist nur zu unterbelichtet, es zu verstehen», lachte Shawn. «Zu unterbelichtet. Ich bin voll erleuchtet», sagte er.

Ich sah gespielt begeistert zu ihm. «Mit Strobo-Effekt?» fragte ich, was Shawn und Owen zum Lachen brachte. Auch Chris hatte Mühe, nicht zu lachen. Du schnell kann es geht.

Andrea Griven - Nichts läuft wie geplantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt