Weihnachtsball

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Andys Sicht:

«Andy, was tust du hier?» fragte Tom mich überrascht. «Ist was passiert?» fragte Shawn sofort. Beide waren von Dreck bedeckt. «Ich will wohl nicht wissen, was passiert ist. Ich bin hier, um mir ein Kleid zu holen. Man hat mich überredet, heute an den beschissenen Weihnachtsball zu gehen», sagte ich. «Und weisst du schon, welches Kleid du anziehen willst?» fragte Shawn mich. «Nein, ich weiss gar nicht, ob ich überhaupt ein Kleid besitze», sagte ich murmelnd.

Tom lachte. «Isi hatte eine Schwäche für Abendkleider. Hat sie gekauft, ohne Grund, auch wenn Isi... So gross war. Also grösser als du. Sollten dir die Kleider gehen. Ich habe sie aufbewahrt. Soweit alle ihre Kleider», sagte Tom dann. «Ich kann nicht Isi's Kleider anziehen», sagte ich schockiert. «Isi wollte immer Kleidung mit dir teilen. Ich weiss noch, dass sie gesagt hat, sie hofft, dass, wenn du ausgewachsen bist, die gleiche Kleidergrösse hast wie sie, damit ihr untereinander tauschen könnt. So hätte sie sozusagen zwei Kleiderschränke, aber sicherlich nicht zu viel Kleidung, weil ihr schliesslich zu zweit wärt», sagte Tom. «Sie würde sich freuen», fügte Tom noch hinzu, und er zog mich in Isi's altes Zimmer. Er hat es so gelassen wie immer. «Also, welche Farbe?» fragte er und öffnete den Kleiderschrank. «Was wollte sie mit all denen?» fragte ich überrascht. «Wie gesagt, sie hatte eine Schwäche. Farbe?» fragte er wieder. «Egal. Einfach bodenlang», sagte ich und setzte mich aufs Bett. «Du musst dich nicht schämen für deine Prothese», sagte er. «Ja, ich weiss, bodenlang», sagte ich. Er schmunzelte. «Ich nehme an, kein Beinschlitz», sagte er. «Ganz genau», sagte ich. «Wie wäre es mit diesem Azurblumen?» fragte er und zeigte es mir. Ich sah es oberflächlich an. Keine Steine, kein Glitzer. Es war schlicht. «Ja, passt», sagte ich und stand auf und ergriff das Kleid. «Willst du es nicht anprobieren?» fragte Tom nach. «Nein, das passt schon. Isi war grösser. Wenn dann ist es mir zu lang, und dafür finde ich eine Lösung», sagte ich. «Na gut», sagte er, liess das Kleid los und grinste. Zu diesem Augenblick wusste ich noch nicht, warum er so dämlich grinste.

«Also danke. Ich gehe wieder», rief ich gegen Ende, damit mich Shawn hört. «Viel Spass», rief dieser mir zu, und ich apparitierte wieder. Als ich dann wieder im Gemeinschaftsraum war, sah ich, wie schon einige in ihren Festumhängen und Kleidern waren und aufeinander warteten. Ich sah auf die Uhr; ich hatte noch nicht mehr viel Zeit. «Kommst du heute auch?» Es war Freorge, der mich das fragte. «Ja, muss mich nur noch umziehen», sagte ich. «Du wirst zu spät kommen», kommentierte Freorge. «Deshalb muss ich jetzt gehen», sagte ich und lief zu meinem Zimmer, das ich während meines Aufenthalts hier hatte.

Ich zog mir das Kleid an, und als ich mich im Spiegel sah, fing ich an zu fluchen. «Du Vollpfosten, Tom.» Das Kleid war schön, keine Frage. Es ging mir auch nicht zu weit, nicht zu lang. Es hatte auch keinen Beinschlitz.  Aber einen Tiefen Ausschnitt. zu tief meiner Meinung nach. Das Kleid schmiegte sich seidig an meinen Körper. Das war so gar nicht ich in diesem Kleid. Meine zum Pferdeschwanz gebundenen Haare öffnete ich sofort. So konnte ich das Ganze immerhin ein bisschen abdecken. Ich kämmte mir die Haare durch. Sie waren weder gerade noch wellig, aber das war mir egal. Das einzige, was mich störte, war der herauswachsende Haaransatz. Aber ich war noch immer nicht schlüssig, ob ich sie überhaupt noch nachfärben soll.

Wie trug ich einen roten Lippenstift auf und tuschte mir die Wimpern. Zu mehr Make-up war ich auch nicht in der Lage. Ich blickte zu meinen Füssen. Wie immer die gleichen Schuhe. Im Winter trug ich immer die gleichen Stiefel, im Herbst immer die gleichen Boots, und das restliche Jahr über die gleichen Turnschuhe. Ich fand es mühsam, die Schuhe an der Prothese zu wechseln. Kann ich die Stiefel behalten? Sind nicht sonderlich schick. Ich blickte in meinen Schrank. Schwarze Sneakers. Ich glaube, die sind besser. War schmutzig, aber besser als die Stiefel. Ich setzte mich also hin und zog mir die Stiefel aus. Die Socken gleich mit, und da ich zu faul war, kürzere Socken zu holen, zog ich die Schuhe ohne Socken an. Hoffentlich kriege ich keine Blasen. Aber ich werde mir dort sowieso den ersten besten Stuhl besetzen. Ich seufzte und stand wieder auf. Wohin mit meinem Zauberstab? Ich suchte das Kleid ab, und schliesslich steckte ich ihn mir in den Ausschnitt. Jetzt lag er auf dem Bauch. Ist das auffällig? Ich drehte mich vor dem Spiegel auf die Seite. Nein, nicht sonderlich auffällig. Ich könnte ein Halstuch anziehen, um den Ausschnitt zu kaschieren. Ich weiss, dass es dämlich ist. Aber der ist viel zu tief. Ein Wunder, dass er nicht bis zum Bauchnabel geht. Wieder seufzte ich. Am liebsten würde ich hier bleiben. Aber ich traue Talis und Zino zu, dass sie hierherkommen, um mich zu holen. Also machte ich mich auf den Weg in die grosse Halle.

Andrea Griven - Nichts läuft wie geplantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt