Capítulo 1

5.1K 94 14
                                    

RANIA

»Bye, Khalto,« verabschiede ich mich von meiner Tante. Normalerweise werde ich abgeholt, da es schon nach Mitternacht ist, aber heute habe ich mich dazu entschieden, alleine nach Hause zu laufen. Der übliche Weg dauert eine halbe Stunde, doch heute wähle ich einen längeren Weg, um mehr Zeit für mich allein zu haben. Zu Hause ist immer viel los - der eine Bruder liebt es, mich zu nerven, der andere überschüttet mich mit Unsinn.

Es ist unheimlich, keine Menschenseele zu sehen, aber ich ignoriere es geschickt. Trotz des Frühjahrsanfangs ist es noch kalt. Mein Handy vibriert.

Hey, bist du schon zu Hause?
Dania

Noch nicht, bin auf der Hauptstraße
Ich

Geh nicht in die Nähe einer Gasse. Vielleicht lauert dort jemand, der dich ermorden will. Dann überlebst du nicht, weil sie keine Zeugen am Leben lassen.
Dania

Nur in Bücher oder Filme wird man meistens entführt :)
Ich

Tja, dafür müsste mir erst einmal jemand beweisen, dass hier jemand entführt wird. Ich meine, ich bin oft nachts draußen. Bisher wurde ich nicht entführt. Meine Gedanken werden durch ein schmerzhaftes Stöhnen unterbrochen. Warte, warte, wurde gerade jemand verprügelt? Vor mir? Auf der Hauptstraße? In Berlin??

Ich muss Schluss machen. Ich schreibt dir, wenn ich zu Hause bin oder Morgen. Hab dich lieb.
Ich

Ich ignoriere weitere Nachrichten und schalte mein Handy aus, während ich mich der Straße vor mir nähere. Es fühlt sich an wie in einem Film - eine aufregende Erfahrung, wenn sie mich nicht erwischen. Stopp, Rania, das hier ist die Realität. Es ist gefährlich, ermahnt mich meine innere Stimme. Mein Verstand funktioniert, aber meine Neugier gewinnt die Oberhand.

Irgendwann bringt mich meine Neugier noch um. Scheiß drauf, man lebt nur einmal, also muss ich auf die Hauptstraße gehen. Das rede ich mir ein. Je näher ich komme, desto lauter werden die Stimmen. »Du weißt doch, was wir mit Verräter machen?«

Ich erblicke einen breit gebauten Mann, der vor einem anderen in der Hocke sitzt und mit ihm spricht. Er umgibt eine düstere Aura. Aufgrund der schlechten Beleuchtung der Straßenlampen kann man sein Gesicht nicht genau erkennen. Er spricht mit einem spanischen Akzent, was seine Anziehungskraft noch verstärkt.

Stopp, Stopp! Reiß dich zusammen, Rania. Er schlägt gerade brutal auf einen zitternden jungen Mann ein.

Ein Knacken hallt durch die leere Hauptstraße. Der Mann hat gerade dem anderen die Nase gebrochen. Mein Herz dröhnt, als würde es aus meiner Brust springen wollen. »Bitte, Boss, es wird nie wieder vorkommen«, fleht der Mann leise, aber laut genug, dass ich es mitbekomme. Warum will der Boss ihn erschießen? Im Augenwinkel bemerke ich Bewegungen. Weitere breit gebaute Männer lehnen an einem Gebäude. Das heißt, ich stehe gerade mit drei Mördern alleine da. Niemand könnte mir helfen, falls ich erwischt werde.

Einer von ihnen spricht mit gefährlich ruhiger Stimme »Natürlich wird das nie wieder vorkommen.« Die Art wie er es sagt, macht mir langsam Angst. Ich muss mir überlegen, wie ich den Mann retten kann. Wer sind sie überhaupt, dass sie denken, sie könnten jeden umbringen, wann und wo es ihnen passt?

Der Mann, der in der Hocke ist, schlägt weiter auf ihn ein. »Glaubst du wirklich, dass wir dich noch am Leben lassen werden?« knurrt er ihn an. Ich suche die Gegend ab, in der Hoffnung, etwas zu finden, womit ich mich verteidigen kann. Ich muss ihm helfen, sonst mache ich mir Vorwürfe, dass ich nicht eingegriffen habe. Aber kann ich ihm überhaupt helfen? Wenn ja, wie zur Hölle soll ich das anstellen?

In meinen verzweifelten Gedanken bemerke ich nicht, wie ich mich immer näher an sie heranschleiche.

Plötzlich höre ich, wie eine Waffe entsichert wird und der Lauf der Waffe an die Schläfe des Mannes gehalten wird. Ich versuche, ein Keuchen zu unterdrücken, suche weiter die Gegend ab, finde aber nichts, womit ich mich verteidigen könnte. Durch das schwache Licht erkenne ich, dass sie alle Anzüge tragen. Alle tragen Schwarz, genauso schwarz wie die Nacht. Es ist schwer, ihre Gesichter zu erkennen.

Wie halte ich sie davon ab, den Abzug zu betätigen? Mir wird durch diese Szene, die sich gerade vor mir abspielt, bewusst, dass in den meisten Filmen die Aufmerksamkeit durch unbeabsichtigte Geräusche erregt wird.

Ich finde auf dem Boden eine Glasflasche. In Berlin liegen sie überall herum. Daher entscheide ich mich, eine leere Glasflasche auf den Boden zu werfen, sodass es den Anschein erweckt, als käme das Geräusch von der anderen Seite der Straße.

Nachdem ich ein paar Schritte zurückgetreten bin, schwinge ich meinen Arm und schleudere die Flasche gegen die Wand. Das Zersplittern des Glases hinterlässt ein Echo, das die Aufmerksamkeit der Umstehenden auf sich zieht. Alle Gesichter wenden sich in die Richtung, die sie für den Ursprung des Geräuschs halten.

Innerlich klopfe ich mir stolz auf die Schulter. »SUCHT DIE GEGEND AB!« schreit der Mann in der Hocke die Männer an. Sofort reagieren sie, jedoch stellt sich ein Problem heraus: Der in der Hocke verbliebene Mann behält den verletzten Mann im Blick.

Jetzt habe ich umsonst für Aufmerksamkeit gesorgt. Ohne Erfolg. Einer der Männer meldet sich: »Hermano, wir haben niemanden gefunden.« »Wollt ihr mir etwa sagen, es war ein Geist oder was? Huh?« knurrt er wütend. Ein Schuss - und der junge Mann ist tot. Ich bin Zeugin eines Mordes. Ich blende alles um mich herum aus und starre auf die Leiche. »Los, Hermanos«, befehlt er seinen Brüdern und reißt mich aus meiner Schockstarre.

Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag in die Magengrube - die Männer, die eifrig nach mir suchen, sind Brüder. Ich bin definitiv am Arsch. Während ich sie beobachte, bemerke ich, dass nicht nur einer, sondern zwei von ihnen sich in meine Richtung bewegen - der Mann in der Hocke und sein Gesprächspartner. Mein Plan, keine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, ist definitiv gescheitert.

Sie kommen in meine Richtung.

Sie kommen in meine Richtung.

Ich wiederhole den Satz in meinem Kopf: Sie nähern sich, nur 50 Meter entfernt. Das Glück ist vorerst auf meiner Seite, da mich das fehlende Licht bisher verborgen hält. Auf Zehenspitzen schleiche ich nach hinten. Ich muss versuchen zu entkommen, ohne dass sie mich bemerken. Mein ursprünglicher Plan ist gescheitert. Er funktioniert nicht mehr, da er tot ist. Großartig.

»Da bewegt sich etwas, Hermano«, sagt jemand. Sofort wenden sich Gesichter in meine Richtung.

Lost in my pastWo Geschichten leben. Entdecke jetzt