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Am späten Nachmittag helfe ich Hyujin dabei, das Abendessen vorzubereiten. Währenddessen sind Jisung und Junseo im Garten, und er hilft Jisung dabei, sein Training zu machen. Ich finde es schön zu sehen, dass Jisung sich seinen Eltern wieder öffnet und sich ihnen gegenüber wieder normal verhält.

„Minho, darf ich dich etwas fragen?"
„Natürlich." Ich drehe mich zu Hyujin, die dabei war, das Gemüse zu waschen. Ohne mich anzusehen, redet sie weiterhin mit mir.
„Wie hast du es geschafft, Jisung aus seinem Tief zu holen und ihn dazu zu bringen, seine Physiotherapie zu machen?"

Ich überlege, ob ich ihr tatsächlich die Wahrheit sagen soll. Vielleicht sollte ich einige Details auslassen oder verändern. Aber was würde es mir bringen, wenn ich sie anlüge? Jisung wird seiner Mutter wahrscheinlich sowieso alles erzählen. „Naja, ganz so freiwillig wollte Jisung damit nicht anfangen", begann ich ihr zu erzählen. Nach meiner Aussage werde ich von der Frau verwirrt angesehen, weshalb ich mit meiner Erläuterung weitermache.

„Ich habe ihn sozusagen dazu gezwungen. Doch nach einiger Zeit, und als er bemerkte, dass er keine andere Wahl hatte, fing Jisung an, seine Übungen sogar freiwillig zu machen." Ich konnte ein leises Kichern von Hyujin wahrnehmen und sah sie überrascht an. Sie jedoch winkte nur ab, und ich sprach nach einem kurzen Schulterzucken weiter.

„Unser Verhältnis zueinander wurde erst um einiges besser, als er mir von dem Unfall erzählt hatte. Das war-„
„Er hat mit dir über den Unfall gesprochen?" werde ich von Hyujin überrascht unterbrochen.
„Ja. Wieso überrascht dich das?"
„Jisung hat, seit er das Krankenhaus damals verlassen hatte, nie wieder mit jemandem über den Unfall gesprochen. Wir haben zwar ein paar Mal einen Psychologen kommen lassen, doch selbst bei ihm hat er nie den Unfall erwähnt. Es überrascht mich nur ein wenig, das ist alles." Hyujin scheint zwar noch immer überrascht darüber, dass Jisung mir von dem Unfall erzählt hat, aber zur selben Zeit trägt sie ein zufriedenes Schmunzeln auf dem Gesicht. Ich selbst wusste nicht, dass Jisung zuvor mit niemandem über den Unfall gesprochen hatte. Demzufolge überrascht mich Hyujins Aussage auch ein wenig.

Als ich anfangen wollte, ihr weiter zu erklären, wie Jisung mit seinen Übungen angefangen hatte, fiel mein Blick auf die Uhr, die an der Wand über der Tür hängt.
„Verflixt, ich muss los!"
„Wo musst du denn hin?" Hyujin folgt mir, während ich in den Flur gehe und meine Schuhe sowie Jacke anziehe.
„Ich muss meine Schwester bei ihrer Freundin abholen." Erkläre ich der Frau. „Warte, ich fahr dich." Bietet sie mir an, doch ich lehne höflich ab.
„Nein, das passt schon, es ist nicht sehr weit von hier." Sie nickt verständnisvoll, und ich gehe aus dem Haus und mache mich auf den Weg, um Yoona bei Olivia abzuholen. Ich muss mich etwas sputen, denn ich bin bereits fast eine halbe Stunde zu spät. Ich hoffe, die Lees hatten deswegen keine Umstände.

Völlig außer Puste komme ich vor dem Haus zum Stehen und muss erst ein paar Mal tief durchatmen. Mit etwas mehr Luft in den Lungen gehe ich auf die Haustür zu und betätige die Klingel. Ich warte einige Sekunden, bis mir die Tür geöffnet wird und Felix mir entgegenkommt.

„Oh? Minho? Was machst du denn hier?" Felix war sichtlich verwirrt, mich hier zu sehen.
„Ich bin hier, um Yoona abzuholen. Sie war heute mit Olivia zum Spielen verabredet." Setze ich Felix ins Bild, da er anscheinend keine Ahnung hat, warum ich hier war. Felix beginnt etwas nervös zu lachen.

„Yoona ist nicht mehr hier."
„Was soll das heißen 'Sie ist nicht mehr hier'?"
„Naja, laut meiner Mutter wurde Yoona vor ungefähr einer halben Stunde von eurem Vater abgeholt." Teilt Felix mir mit.
„Das kann nicht sein!" Werde ich ungewollt etwas lauter. Felix zuckt erschrocken zusammen und weiß wohl nicht mehr, was er machen oder sagen soll. Das kann unmöglich sein. Es war doch ausgemacht, dass ich Yoona abhole.

„Was ist denn hier los?" höre ich leise im Haus fragen, und Felix' Mutter taucht wenige Sekunden später im Flur auf. Sie hat wohl meine entsetzte Aussage gehört. Verständlich, ich war ja auch nicht gerade leise.

„Minho? Yoona ist nicht mehr hier, sie wurde von eurem Vater abgeholt." Erklärt die Frau mir nun ebenfalls das Gleiche noch einmal, das ich bereits von Felix gehört hatte.
„Es war aber doch ausgemacht, dass ich sie abholen komme." Ich muss mich wirklich zusammenreißen, um hier keinen Wutanfall zu bekommen. Um mich abzulenken, balle ich meine Hände zusammen, und meine Fingernägel bohren sich in meine Haut.

„Dein Vater meinte, du hättest keine Zeit und es wäre mit dir abgesprochen, dass er deshalb Yoona abholen kommt." Ich kann der Frau nicht mal böse sein, da sie nicht wusste, dass meine Eltern getrennt sind. Ich entschuldige mich deshalb bei ihr und Felix und mache mich zurück auf den Weg nach Hause. Ich muss meiner Mutter so schnell wie möglich davon erzählen. Ich werde nicht zulassen, dass mein 'Vater' uns Yoona wegnimmt. Er hat sie nicht verdient.

So schnell, wie mich meine Beine tragen konnten, kam ich am Haus der Hans an und ging hinein. Meine Mutter war jedoch noch immer nicht von der Arbeit zurück, und so müsste ich noch warten. Mir war vermutlich anzusehen, dass mich etwas beschäftigte und dass ich gerade ziemlich Lust habe, etwas kaputt zu machen. Denn Hyujin beugt mich mit erschrockener Miene, als sie bemerkt, dass ich wieder da war, jedoch alleine. Auch, dass Jisung und sein Vater in dem Moment ins Haus kommen, macht meine Situation nicht besser.

„Was ist los?" stellt Jisung sofort die Frage, als er bemerkt, dass etwas nicht stimmt. Ich bin jedoch überhaupt nicht in der Lage, um mit jemandem zu reden. Deshalb gehe ich an Jisung vorbei hinaus in den Garten. Meine Füße tragen mich zu einer Mauer, welche das Grundstück zu den Nachbarn abgrenzt. Mein Bedürfnis, dagegen zu schlagen, wird mit jeder Sekunde größer. Ich weiß einfach nicht, wohin mit mir.
Was passiert, wenn mein Vater Yoona wegnimmt und wir sie nie wieder sehen werden?
Was, wenn er das Sorgerecht für sich alleine beanspruchen kann?
Nein!
Das werde ich auf keinen Fall zulassen!
Er verdient Yoona nicht!

Wütend schlage ich nun doch auf die Mauer ein. Ein... zwei... drei... vier Mal. So lange, bis meine Hand plötzlich festgehalten wird.

„Hör auf! Was tust du denn?!" Jisung hält meine Hand fest und starrt mich erschrocken an. Meine Knöchel sind am Bluten, und meine Hand schmerzt wie verrückt. Doch das ist mir in diesem Moment so ziemlich egal. Ich muss die Wut aus meinem Körper und meinen Gedanken bekommen. Ich versuche, meine Hand aus Jisungs Griff zu bekommen, um weiter auf die Wand vor mir zu schlagen, auf der sich bereits kleine Blutflecken befinden. Zwei weitere Male schlage ich auf die Wand, bevor Jisung erneut meine Hand zu fassen bekommt.

„Lass das! Hör endlich auf!" Jisung zerrt mich so gut er kann von der Stelle weg, an welcher ich stehe. Ich stolpere einige Schritte zurück, bevor ich mich auf den Boden fallen lasse und nun im Gras sitze. Meine Knie winkle ich an, setze meine Ellenbogen darauf ab und stütze meinen Kopf auf den Handballen ab.

Was soll ich nur tun!?
Meine Mutter wird am Boden zerstört sein, wenn ihr Yoona weggenommen wird.
Wie kann ich verhindern, dass mein Vater das Sorgerecht für Yoona bekommt?
Was kann ich tun, um zu helfen?
Wieso kann mir denn niemand eine Antwort darauf geben!?









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His true nature//Minsung Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt