Kapitel 27

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Er hatte ihr nicht verraten, was er mit ihr vorhatte. Stattdessen hatte Lucas sich zurückgelehnt, seine langen Beine ausgestreckt, die Arme verschränkt und die Augen geschlossen. Sie hatte den ganzen Flug über die Gelegenheit gehabt, ihn beim seelenruhigen Schlafen zu beobachten. Seine Alpha-Rolle hatte seinen Körper noch athletischer gemacht, mit festeren Muskeln und breiteren Schultern, als sie ihn in Erinnerung hatte. Jeder Muskel zeichnete sich unter seiner Kleidung ab, ein Beweis für die körperlichen Herausforderungen, denen er sich in den letzten Jahren gestellt haben musste. Er trug sein Haar nun etwas anders – ein paar Zentimeter länger und nach hinten gekämmt,  was ihm einen Hauch von Eleganz verlieh, der ihm früher gefehlt hatte. Er war glatt rasiert, und die einst jugendlichen Züge seines Gesichts hatten sich in eine reife, maskuline Schönheit verwandelt. Einige feine Linien hatten sich um seine Augen gebildet, die ihm eine noch tiefere Intensität verliehen.  Wenn er damals gut aussehend war, so war Lucas heute perfekt. Perfekt geformt von der Mondgöttin, die ihren Kindern wohlbesonnen war.

Sie fragte sich, was er in den letzten drei Jahren durchgemacht hatte. Hatte er jemals an sie gedacht? Hatte er sie gehasst für das, was sie getan hatte? Ihre Gefühle waren unterdrückt, doch sie konnte das unbändige Verlangen, seine warme Haut zu berühren, nicht ignorieren. Hier, in seiner Nähe schien Ellies Armband schneller als gedacht zu schwächeln.

Als sie schließlich landeten, wartete ein Auto auf sie. Ein Fahrer öffnete ihnen die Tür und sie fuhren etwas abseits der Stadt. Ivy beobachtete die Straßen, die an ihnen vorbeizogen. Hier hatte sie vor drei Jahren gewohnt und nun fühlte sich alles so fremd an. Die Ecken, die sie einst kannte, hatten sich inzwischen weiterentwickelt. Neue Geschäfte waren hinzugekommen und alte verschwunden. Die Veränderungen ließen sie sich noch mehr wie eine Fremde fühlen.

„Gibt es den Potion Pub noch?" fragte sie Lucas.

Er sah sie steif an, blickte dann wieder aus dem Fenster. „Nachdem klar war, dass die Besitzerin eine Hexe ist, haben wir dafür gesorgt, dass dieser schäbige Laden nicht mehr offen bleibt."

Ivy blickte ihn an. Sein hasserfüllter Blick sagte ihr alles. „Was ist mit der Besitzerin passiert?" fragte Ivy vorsichtig.

Lucas drehte den Kopf wieder zu ihr. „Warum willst du das wissen? Schließlich hast du sie ebenso im Stich gelassen wie den Rest von uns."

Autsch. Das tat weh. „Ich will wissen, ob es ihr gut geht.", verlangte Ivy.

Lucas schnaubte. „Sie ist in einem hexenfreundlichen Reservat untergekommen. Sie und ihr Coven." Ein kleines bisschen Erleichterung durchdrang ihre Anspannung.

„Was ist mit dem anderen Coven?" fragte Ivy nach einer kurzen Pause.

„Du meinst, der zu dem du früher gehört hast?" stellte Lucas die Gegenfrage.

„Ich habe ihnen als Kind angehört. Sie sind schon lange nicht mehr mein Coven," widersprach Ivy.

Lucas zuckte mit den Achseln, als wollte er sagen: Einmal Hexe, immer Hexe. „Es interessiert mich nicht," sagte er kühl. „Sie sind nicht aufzufinden. Ihr Haus wurde, nachdem die Schutzzauber gebrochen waren, leer aufgefunden."

Ivy fragte sich, ob er wusste, was dort vorgefallen war. Ob er wusste, dass sie dafür verantwortlich gewesen war, die Schutzzauber zu brechen und Ellie zu befreien. Aber sie wagte es nicht, zu fragen. 

„Das heißt, ihr regiert nun die Stadt mit eiserner Hand?" fragte sie bitter. „Sind alle Hexen in dieser Stadt nun in Lebensgefahr?"

„Es gibt zwei Bedingungen für Friedensgespräche mit Hexen," antwortete Lucas. „Wir wollen die Hexe, die meine Mutter verhext hat, und wir wollten dich finden. Ein Teil der Bedingung ist nun wohl erfüllt." Er sah sie mit einem kalten Lächeln an. „Bis dahin ist jede Hexe in Gefahr, die sich in Montreal zeigt."

„Auch ich?" hauchte sie.

„Ganz besonders du," erwiderte Lucas kühl mit einem abschätzenden Blick. „Du hast dein Leben verwirkt, als du mich zu deinem Opfer auserkoren hast."

„Ich wollte dir nie schaden," flüsterte Ivy, und fühlte wie wieder Tränen in ihr aufstiegen.

„Dafür ist es jetzt zu spät," sagte Lucas mit unnachgiebiger Stimme.

Sie wollte noch etwas sagen, doch das Auto hielt an. Sie bemerkte, dass sie in der Einfahrt einer großen Villa standen. Das Rudelhaus. Es lag majestätisch am Rande von Montreal, eingebettet in eine weitläufige Landschaft, die sowohl Eleganz als auch Abgeschiedenheit bot. Die lange, gepflasterte Einfahrt, gesäumt von alten, gepflegten Hecken und hohen, gusseisernen Laternen, führte Besucher durch eine dichte Allee aus Ahorn- und Eichenbäumen direkt auf das beeindruckende Anwesen zu.

Die Villa selbst war ein Meisterwerk. Hohe, elegante Fenster mit kunstvollen Verzierungen und schmiedeeisernen Balkonen dominierten die Fassade. Die Wände waren aus altem, beigefarbenem Stein, der im Licht der Dämmerung in einem warmen, goldenen Ton leuchtete. Die Haupttür war ein massives, doppelflügeliges Gebilde aus dunklem Holz, verziert mit aufwendigen Schnitzereien und bronzenen Beschlägen. Darüber thronte ein imposanter Balkon, der von steinernen Säulen getragen wurde und einen perfekten Ausblick auf die Einfahrt bot.

Als das Auto anhielt, öffnete der Fahrer die Tür und half Ivy auszusteigen. Ein älterer Mann, der Butler des Hauses – oder besser gesagt der Hausverwalter – stand vor der Tür und verbeugte sich leicht. Lucas ging an ihm vorbei und murmelte nur: „Kümmere dich um sie.", als würde er eine lästige Aufgabe abschütteln. Ivy blieb zurück und schaute ihm nach, wie er ohne einen weiteren Blick auf sie ins Haus verschwand.

Ivy fühlte sich wie ein Sträfling, als sie von Boris, dem Verwalter des Hauses, durch die majestätische Eingangshalle des Rudelhauses geführt wurde. Ihr Blick glitt über die prunkvollen Marmorböden, die hohen Decken und den gigantischen Kronleuchter, der den Raum in ein warmes Licht tauchte. Die Porträts an den Wänden schienen sie zu beobachten, die Augen der einstigen Alpha-Leader des Rudels folgten ihr mit stummer Strenge.

„Kommen Sie, Miss," sagte Boris mit einem formellen Ton, der keine Widerrede duldete. Ivy hatte keine andere Wahl als ihm zu folgen, ihre Schritte waren schwer und ihre Schultern von der Last der vergangenen Stunden gebeugt. Sie war erschöpft und verschwitzt von der langen Reise, fühlte sich unwohl und spürte die wütenden und neugierigen Blicke der einiger weniger anwesender Rudelmitglieder, die sie im Haus beobachteten.

Ivy konnte das leise Flüstern von Gesprächen hören, die abrupt verstummten, als sie vorbeiging. Ihre Präsenz schien eine Störung in der sonst so geordneten Welt zu sein.

Boris führte sie eine breite Treppe hinauf in die oberen Stockwerke. Jede Stufe hallte unter ihren Schritten wider, als würde das Haus selbst ihre Anwesenheit registrieren. Am oberen Stockwerk angekommen,  zog Boris eine Sicherheitskarte hervor und öffnete eine schwere Tür zum Flur. Ivy sah die Sicherheitsvorkehrungen und wusste, dass sie hier gefangen war. 

Am Ende des Ganges öffnete die Tür zu einem puristisch eingerichteten Zimmer mit einem großen bodenlangem Fenster. Es war schlicht und funktional, mit einem großen Holzbett, das zwar unspektakuläre aber bequem aussah, einem Schrank und einem Schreibtisch. Kein Luxus, nur das Nötigste. „Ich werde Ihnen gleich etwas zu essen hochschicken," sagte Boris und fügte warnend hinzu: „Es werden drei Mahlzeiten serviert. Wenn Sie diese verweigern, gibt es dazwischen nichts. Das Haus ist gegen Magie geschützt, die dem Rudel schaden könnte. Es hat keinen Sinn, auch nur jemanden anzugreifen."

Ivy nickte stumm, zu erschöpft, um zu protestieren. Boris war schon fast aus der Tür, als sie ihn zurückrief. „Warten Sie," sagte sie leise, ihre Stimme unklar vor Müdigkeit und Angst. „Ich... ich habe kein Gepäck."

„Im Badezimmer finden Sie alle Artikel, die Sie brauchen," antwortete Boris mit einem Hauch von Mitleid in der Stimme. „Im Schrank sind ein paar Sets Kleidung, die Ihnen passen werden." Dann verließ er den Raum und schloss die Tür hinter sich. Sie hörte ein leises Klicken als die Tür hinter ihm automatisch verschlossen wurde.

Allein in dem kargen Raum fühlte sich Ivy überwältigt von der Situation. Das erste Mal seit Stunden ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf. Sie sank auf den Boden, ihre Knie zogen sich an ihre Brust und die Tränen, die sie so lange zurückgehalten hatte, flossen unaufhaltsam. Das Gewicht der letzten Stunden, die Unsicherheit und die Angst brachen über sie herein.

Forbidden Desire: Alpha's GeheimnisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt