Kapitel 32

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Ivy erwachte allein in ihrem Zimmer. Das Licht des frühen Morgens fiel sanft durch die Vorhänge. Sie blinzelte, ihre Augen waren schwer, doch das Gefühl der Erschöpfung, das sie überkam, war nicht unangenehm. Es war das Gefühl, das nach einem langen Heulkrampf eintritt, wenn die Tränen alles weggespült haben – die Last, die auf der Seele lag, das Chaos der Emotionen, die den Körper und den Geist belastet hatten. Jetzt fühlte sie sich leer, aber irgendwie auch leichter.

Sie spürte das Gefährtenband nun klarer als je zuvor. Es war, als würde klares Wasser durch sie hindurchsickern, jede Faser ihres Wesens durchdringen und nach ihrem Gefährten rufen. Oh Hekate, wie konnte etwas so schön und traurig zugleich sein, überlegte sie. Es war bittersüß – eine Verbindung, die ihr Trost und zugleich Schmerz brachte. Sie hatte ihre Gefühle für Lucas all die Jahre tief in sich vergraben, hatte versucht, sie zu unterdrücken, zu ignorieren. Doch jetzt waren sie an die Oberfläche gekommen, wie ein schlafender Vulkan, der endlich ausbrach.

Es war eine überwältigende Erkenntnis. Sie liebte Lucas – oder zumindest den Lucas, den sie gekannt hatte, den Mann, der sie damals in seinen Armen gehalten und ihr die Welt versprochen hatte. Aber heute? Heute war er ein anderer Mann. Härter, verbitterter, und der sie offensichtlich verabscheute. Das Gefährtenband, das sie beide teilten, war zu einer Quelle von Schmerz und Trost gleichermaßen geworden, und sie wusste, dass sie sich damit auseinandersetzen musste. Mit ihm. 

Sie wurde unterbrochen, als plötzlich die Tür aufging und Boris eintrat. Sein massiger Körper füllte den Raum fast aus, aber es war sein warmes Lächeln, das ihr auffiel.

„Oh, Sie sind endlich wach, Miss," sagte er froh darüber, dass sie sich erholt hatte. Er legte ihr einpaar Kleider auf den Tisch. 

Ivy richtete sich mühsam auf, ihre Glieder fühlten sich schwer an, als hätte sie tagelang geschlafen. „Wie lange habe ich geschlafen?" fragte sie, ihre Stimme noch rau vom Schlaf und der emotionalen Erschöpfung.

„Ungefähr zwei Tage," antwortete Boris, während er ein Tablett mit Essen auf den Tisch neben ihrem Bett stellte. „Sie haben viel durchgemacht. Sie können sich ausruhen, so lange Sie möchten, Miss. Anordnung des Alphas."

"Wie gütig.", murmelte sie spöttisch und stand auf. Sie bemerkte, dass sie ein Seidennachthemd trug. "Wer hat mich umgezogen?", fragte sie entrüstet.

"Vermutlich Ihr Gefährte, Miss?", fragte Boris etwas verlegen.

"Mein Gefährte?", fragte Ivy langsam.

"Der Alpha hat sich die letzten Tage um Sie gekümmert, Miss Ivy.", klärte Boris auf. 

Sie sah verwirrt aus. Woher wusste Boris, dass Lucas ihr Gefährte war? Hatte Lucas es ihm gesagt? Sie hatte den Eindruck, dass ihm diese Tatsache zuwider war - vor allem nach dem, was sie erfahren hatte: Dass er wegen ihr die Fähigkeit verloren hatte, sich zum Vollmond zu verwandeln. Und dieser Mann sollte sich um sie - die Verräterin  - gekümmert haben, die ihm das genommen hatte? Das konnte sie sich bei weitem nicht vorstellen. Hatte er sie nackt gesehen? Oh Hekate, sie musste aufhören, daran zu denken. 

Ihr Schädel brummte. Das einzige, woran sie sich erinnern konnte war, dass sie diesen Sturm gefühlt hatte, der ihr ganzes innerstes durcheinander gebracht hatte, und aus dem sie nicht rauskommen konnte, bis... sie Lucas gefühlt hatte. Er war in ihrem Kopf gewesen. Zuerst hatte sie nur das Band zu ihm gefühlt, aber dann hatte sie ihn gespürt. Seinen Körper an ihrem. Er hatte sie da raus gezogen. 

"Kann ich ihn sehen?", fragte sie leise. 

Boris nickte. "Wenn Sie es wünschen." 


Forbidden Desire: Alpha's GeheimnisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt