Kapitel 54

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Ellie trat leise in Ivys Zimmer, die Tür schwang sanft hinter ihr zu. Ivy saß auf dem Bett, ihre Schultern leicht nach vorne gebeugt, die Augen von Tränen gerötet, doch auf ihren Lippen lag ein trauriges Lächeln. Der Schmerz, der in den letzten Stunden durch ihren Körper und ihre Seele geflossen war, hatte eine Schwere in ihr hinterlassen, die kaum zu ertragen war.

„Wie geht es dir?" fragte Ellie leise und setzte sich vorsichtig neben sie.

„Ich bin fertig," sagte Ivy mit einem schwachen Lächeln, während sie zu Ellie aufblickte. Ihre Augen funkelten trotz allem in der Dämmerung des Zimmers, ein Überbleibsel der tiefen Trauer, die sie durchgemacht hatte. „Ich habe den ganzen Tag geweint."

„Was ist passiert?" fragte Ellie besorgt, und ihre Finger fuhren sanft durch Ivys unordentliche Haare.

„Er hat gesagt, dass er mich liebt. Und dass er mich als seine Luna sieht." Ivy flüsterte die Worte, als wären sie zu schwer, um laut ausgesprochen zu werden.

Ellie hielt inne, überrascht. „Aber ist das nicht genau das, was du dir die ganze Zeit gewünscht hast, Ivy?" Ihre Stimme war sanft, voller Zuneigung.

Ivy schüttelte den Kopf, ihre Finger gruben sich in die Decke, auf der sie saß. „Ich bin dem nicht gewachsen, Schwesterherz," flüsterte sie heiser, ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen, die sie mühsam zurückhielt. „Ich werde ihm nur schaden. Kannst du dir mich vorstellen, als Luna eines Wolfsrudels?"

Ellie schüttelte den Kopf, ihre Stimme wurde sanfter, beruhigender. „Du schadest ihm doch nicht, Ivy. Du bist ein wundervoller, loyaler Mensch. Eine starke Hexe. Alphas ziehen nur mächtige Lunas an. Und ich habe deine Macht gespürt." Ellie nahm Ivys Hände in ihre eigenen. „Oleandra und Astra haben sich geirrt. Du bist die Mächtigere von uns beiden. Du hast die Energie und die Kraft, Welten und Städte niederzubrennen – oder sie wieder aufzubauen. Du wirst die stärkste Luna sein, die dieses Rudel je erlebt hat. Eine Kriegerin. Lass dich nicht davon abschrecken. Du liebst Lucas, und er liebt dich."

Ivy blickte auf ihre Hände hinunter, Tränen tropften auf ihre Finger. „Ich habe Angst," flüsterte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch.

Ellie nickte, strich ihr sanft über den Rücken. „Ich weiß. Aber wenn du es nicht wagst, wirst du es ein Leben lang bereuen," sagte sie mit einer Sanftheit, die ihre eigenen Unsicherheiten verbarg. „Du hast so viel durchgemacht, Ivy. Lucas hat den ganzen Monat lang an deinem Bett gewacht, hat gelitten, hat mir sein Herz ausgeschüttet. Er kann ohne dich nicht leben. Seine Göttin hat euch beide aneinander gebunden, nicht als Fehler, nicht weil sie Schicksal spielen wollte, sondern weil ihr zusammen gehört. Ich hättet euch auch ohne die Mondgöttin gefunden, davon bin ich überzeugt."

Ivy schloss für einen Moment die Augen, ihre Gedanken wirbelten wild umher. Konnte sie das wirklich sein? Konnte sie die Frau sein, die Lucas an ihrer Seite brauchte? Die Luna, die ein ganzes Rudel akzeptieren würde?

„Und was ist mit dir?" fragte Ivy schließlich leise, blickte Ellie an. „Du bleibst alleine."

Ellie lächelte sanft, doch in ihrem Lächeln lag eine Stärke, die Ivy bewunderte. „Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen. Oleandra und Astra können mich nicht mehr verletzen. Ich finde meinen Weg. Schließlich bin ich eine Hexe. Ich komme zurecht." Sie zog Ivy in eine warme Umarmung, hielt sie fest, während die Stille des Zimmers sie beide einhüllte.

„Ich bin immer bei dir, egal wo du bist," flüsterte Ellie sanft.

Ivy schloss die Augen, ließ sich in diese Umarmung fallen, in die Sicherheit, die sie ihr bot. Sie wusste, dass es keine leichte Entscheidung war, aber Ellies Worte hallten in ihr wider: Wenn sie es nicht wagte, würde sie es für immer bereuen. Und diese Last konnte sie nicht tragen.


Lucas stand draußen vor dem Shop, die frische Luft prickelte kühl auf seiner Haut. Seine Gedanken wirbelten durcheinander, und die innere Unruhe machte es ihm schwer, stillzustehen. Am liebsten hätte er sich ausgezogen, sich in seinen Wolf verwandelt und wäre in den nächsten Wald gerannt, einfach um den Kopf freizubekommen. Doch er hatte Ellie versprochen, keine Dummheiten zu machen und die Stadt nicht aufzuschrecken. Also blieb er dort, starrte in die Dämmerung und atmete tief ein und aus.

Plötzlich bimmelte die kleine Glocke über der Shoptür, und er drehte sich um. Ivy stand in der Tür, immer noch in der pinken Leggings und dem „You Witch"-Shirt. Ihre Augen, die ihn so oft herausgefordert und fasziniert hatten, strahlten ihn an, auch wenn ihre Haare ungekämmt über ihre Schultern fielen. Sie sah so schön aus, dass ihm der Atem stockte.

„War das Angebot ernst gemeint?" fragte sie, ihre Stimme sanft, aber in der Luft lag eine gewisse Spannung.

Er nickte nur, denn Worte schienen ihm nicht genug zu sein, um zu beschreiben, wie sehr er es meinte. Mondgöttin, ja, er würde ihr die Welt zu Füßen legen, wenn sie seine Luna werden würde.

„Ich bin keine Diplomatin oder gut in Öffentlichkeitsarbeit, so wie andere Lunas es sein könnten," sagte sie, ihre Augen suchten nach einem Zeichen von ihm.

Wieder nickte er, seine Hände in die Taschen seines Hoodies vergraben, um sich daran zu hindern, sie einfach zu sich zu ziehen. „Ich will keine andere Luna, Ivy," sagte er fest.

„Ich werde meine Magie nicht mehr verbergen," flüsterte sie und trat einen Schritt auf ihn zu, als wolle sie sehen, ob er damit umgehen könnte.

„Deine Magie gehört zu dir," sagte er ernst, und in seinen Augen lag  Verständnis. „Und ich will alles von dir, nicht nur einen Teil."

Ivy sah ihn unsicher an, als ob sie noch immer Zweifel hegte, dann hob sie leicht das Kinn. „Ich will etwas Sinnvolles mit meinem Leben anfangen, und eine zweite Filiale unseres Ladens in Montreal eröffnen."

Ein leichtes Lächeln huschte über Lucas' Gesicht, und er nickte. „Das bekommen wir hin."

Sie schien zu zögern, und ihre Stimme war fast ein Flüstern, als sie fortfuhr: „Ich weiß nicht, ob ich Kinder will." Ihre Augen wanderten kurz zu Boden, bevor sie ihm wieder ins Gesicht blickte. „Unsere Mutter hat uns verlassen, und meine Tanten waren Dämonen... Ich habe nie gelernt, Liebe zu schenken. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich..."

Lucas legte seine Hände auf ihre Schultern, und sein Blick war fest und liebevoll. „Ivy... ich nehme dich nicht, um mir Kinder zu schenken," sagte er leise, aber bestimmt. „Ich will in erster Linie dich. Ob wir unsere Familie irgendwann erweitern, das entscheiden wir dann gemeinsam. Und wenn du es nicht willst, dann... wirst du vielleicht das Herz meiner Mutter brechen," fügte er mit einem kleinen Lächeln hinzu, „aber ich werde deine Entscheidung immer respektieren. Ich liebe dich, okay? Und ich will dich nicht mehr loslassen."

Ivy sah ihn für einen Moment still an, ihre Augen suchten in seinem Gesicht nach jeder Nuance von Wahrheit, jeder Emotion, die in ihm mitschwang. Dann, plötzlich, ging sie auf die Zehenspitzen und ihre Lippen fanden seine. Der Kuss war zuerst zart, vorsichtig, als würden sie beide testen, wie es sich anfühlte, nach all der Zeit wieder in diesem Moment zu sein. Doch dann wurde der Kuss intensiver, länger, ihre Zungen tanzten in einem vertrauten Rhythmus miteinander. Sie konnte die Hitze seiner Haut durch den Stoff spüren, und es war, als ob all die Zurückhaltung zwischen ihnen auf einen Schlag zerschmolz.

Ivy sprang hoch, und ihre Beine umschlangen Lucas' Hüfte, als sie sich noch enger an ihn schmiegte. Sein Griff an ihren Oberschenkeln wurde fester, und sie fühlte sich, als ob sie endlich an dem Ort angekommen wäre, an dem sie immer hingehört hatte – in seinen Armen.

Sie atmete tief durch. "Ich liebe dich, Alpha.", flüsterte sie.

"Ich liebe dich, Hexe.", murmelte er.

Forbidden Desire: Alpha's GeheimnisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt