Kapitel 29

176 20 4
                                    

Inzwischen waren fünf Tage vergangen. Ivy saß in ihrem kleinen, gemütlichen Gefängnis und fühlte sich zunehmend verzweifelt. Das Zimmer war gut ausgestattet, aber es war und blieb ein Gefängnis. Ihr Handy war nutzlos, das mobile Netz sowie das Internet waren in diesem Raum gesperrt. Auch ihre Magie war hier nutzlos. Lucas musste das Zimmer sorgfältig auf ihr Eintreffen vorbereitet haben. Die magischen Barrieren waren perfekt gesetzt, und jeder Versuch, sie zu durchbrechen, endete in schmerzhafter Frustration.

Jeden Tag erschien Boris mit der Pünktlichkeit eines Uhrwerks und brachte ihr Essen. Doch seit zwei Tagen hatte Ivy sich geweigert zu essen, in der Hoffnung, dass jemand anderes als dieser wortkarge Riese auftauchen würde. Doch Lucas war nicht erschienen. Boris betrat das Zimmer, reinigte es, putzte das Bad und richtete ihr Bett. Meistens schwieg er dabei, seine Augen fixierten stumm die Aufgaben, die er erledigen musste.

Ivy stand oft am Fenster, das sich nicht öffnen ließ, oder saß am Schreibtisch und beobachtete Boris bei der Arbeit. „Wann werde ich freigelassen?" fragte sie jeden Tag, ihre Stimme von Tag zu Tag gereizter.

Doch Boris antwortete nicht. Auch auf ihre Frage: „Wann kommt dein Alpha wieder?" gab er keine Antwort. Er arbeitete schweigend weiter, seine Bewegungen ruhig und methodisch. Am fünften Tag stellte er das Essen auf ihren Schreibtisch, doch Ivy würdigte es keines Blickes. Sie war gereizt, hungrig und fühlte sich unerträglich einsam.

Als Boris sie aufforderte zu essen, explodierte ihre angestaute Frustration. Mit einer raschen Bewegung fegte sie das Essen vom Tisch, sodass es auf dem Boden landete. Doch Boris zuckte nicht einmal mit der Wimper. Er drehte sich um und holte einen Feger, um die verstreuten Speisen aufzusammeln.

„Wow... du bist ein braver Hund, was?" sagte sie hämisch, ihre Stimme triefte vor Sarkasmus. „Wie lange will dein Alpha mich noch hier gefangen halten? Monate? Jahre?" Das würde sie nicht aushalten.

Boris hielt inne, sah sie einen Moment lang an, doch seine Augen verrieten nichts. Er setzte seine Arbeit fort, als hätte sie nichts gesagt. Ivy fühlte, wie die Wut in ihr hochkochte. Sie war es leid, ignoriert zu werden, und die ständige Ungewissheit zerrte an ihren Nerven.

„Hörst du mich nicht?" rief sie wütend, ihre Stimme brach vor Verzweiflung. „Ich will Antworten!"

Boris stand auf und sah sie an, seine Augen ruhig und unerschütterlich. „Miss Ivy," sagte er schließlich, seine Stimme ruhig und sanft. „Ich habe meine Anweisungen. Bitte setzen Sie sich und essen Sie. Es wird Ihnen nichts bringen, sich selbst zu schaden."

Ivy starrte ihn an, unfähig zu glauben, dass das alles war, was er zu sagen hatte. Ihre Knie gaben nach und sie ließ sich auf den Stuhl sinken. Die Tränen flossen jetzt frei, wie jeden Tag, den sie hier verbracht hatte. Boris beendete seine Arbeit und verließ das Zimmer, ließ Ivy allein mit ihrer Verzweiflung.


Jede Nacht, während sie schlaflos in ihrem Bett lag, schmiedete sie Pläne und ließ die Verzweiflung in ihr zu einem festen Entschluss werden. Wenn Lukas nicht kommen wollte, musste sie zu ihm kommen. Sie musste einen Ausweg finden. Sie konnte nicht länger in diesem goldenen Käfig bleiben, egal wie luxuriös er auch sein mochte.

Am siebten Tag, als die Dämmerung hereinbrach, wartete Ivy hinter der Tür, ihre Muskeln angespannt und bereit zum Angriff. Ihre Hände zitterten leicht, aber sie biss die Zähne zusammen. 

Als Boris die Tür öffnete und das Zimmer betrat, sprang Ivy ohne zu zögern hinter ihm auf ihn zu. Sie warf sich mit all ihrer Kraft gegen ihn, versuchte, ihn mit ihren kleinen Armen und Beinen zu überwältigen. Ihre Hände griffen nach seinem Hemdkragen, während sie sich so schwer machte, wie sie nur konnte. "Hey, Lady.", hörte sie Boris sagen, "Ich will Sie nicht verletzen." Er war ein riesiger Mann, und es schien zunächst, als ob ihr Angriff nicht sonderlich gelungen war.  Mit einem kräftigen Ruck versuchte er, Ivy abzuschütteln, doch sie hielt sich fest, ihre Zähne fest zusammengebissen. Ihre Arme und Beine schmerzten, aber sie gab nicht nach. Schließlich spürte sie, wie Boris das Gleichgewicht verlor und mit ihr zusammen zu Boden fiel.

Der Aufprall war hart. Ivy keuchte vor Schmerz, als sie auf dem Holzboden landete. Ihre Lungen brannten und ihr Kopf dröhnte, aber sie atmete tief durch und zwang sich, weiterzumachen. Sie wusste, dass sie nicht viel Zeit hatte.

Ivy versuchte, sich aufzurappeln und durch die Tür zu rennen, doch sie prallte gegen einen anderen Körper und fiel erneut rückwärts auf den Boden. Sie schaute hoch, endlich froh, eine andere Person zu sehen – hoffte, Lucas zu sehen. Doch es war nicht Lucas. Es war Jason, Lucas' Freund, den Ivy ein paar Mal gesehen hatte. Jason sah erst grimmig zu ihr, dann zu Boris.

„Alles in Ordnung? Bist du verletzt?" fragte er Boris.

Boris nickte und stand langsam wieder auf. „Ja... Danke, Beta. Nur mein Stolz ist verletzt. Die Lady hat Feuer," sagte er und klang dabei etwas verwundert.

Beta... dachte sich Ivy. Er war Lucas' Beta.

Jason schnaubte. „Ich sehe keine Lady. Nur eine aufmüpfige Hexe." Er blickte wieder zu ihr.

Ivy stand auf, klopfte den Staub von ihrer Kleidung ab und sah zu Jason. Er hatte rötliche Haare und hellgraue Augen, seine Haut war blass und seine Züge scharf geschnitten. Er war großgewachsen wie Lucas, aber nicht ganz so muskulös, wirkte jedoch fast genauso einschüchternd.

„Ihr haltet mich seit sieben Tagen wie eine Gefangene in diesem Zimmer fest. Selbst Sträflinge bekommen mal Auslauf," zischte sie. „Ich will deinen Alpha sehen. Hol ihn her," verlangte sie.

Jason lehnte an den Türrahmen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich glaube, du bist die Letzte, die hier etwas zu sagen hat. Aber selbst wenn ich ihn holen wollte, er ist nicht hier. Er ist seit Tagen in einem Blutrausch auf der Jagd."

„Tage?" fragte sie erstaunt. „Es ist gar nicht Vollmond."

„Lass uns allein, Boris," sagte Jason ruhig.

Boris nickte und verließ den Raum. Ivy sah ihm mitleidvoll nach und hoffte, dass er bleiben würde. Sie wusste nicht, was Jason mit ihr vorhatte, und sein grimmiger Ausdruck ließ nichts Gutes erahnen.

„Glaubst du, er würde deine Anwesenheit einfach so ertragen, Hexe?" fragte Jason wütend. „Er verabscheut den Gedanken, dich wieder hier zu haben."

„Dann sind wir ja schon zwei. Er hätte mich erst gar nicht zurückholen sollen.," sagte sie spöttisch.

„Vielleicht fühlt er sich sicherer, jetzt wo du machtlos in dieser Kammer sitzt," erwiderte Jason kalt.

Sie biss sich auf die Lippe und versuchte, die aufsteigende Panik zu unterdrücken. „Also will er mich hier verrotten lassen?" fragte sie bitter.

„Das habe ich nicht gesagt. Er hat ein paar Aufgaben, die du für ihn erledigen musst, aber es ist nicht mein Recht, sie dir zu nennen." Jason trat zum Fenster und sah hinaus. „Das, was du ihm angetan hast, ist unverzeihlich. Ich kann dir nur eins sagen: Jeder ist endlich froh, dass du wieder hier bist und dieses Chaos endlich enden kann, und wenn es nach mir ginge, würde es mit deinem Leben enden."

Ivy schluckte merklich, ignorierte aber die Drohung. Sie musste stark bleiben und herausfinden, was mit Lucas geschehen war. „Was ist mit ihm geschehen, damals, in der einen Nacht?" fragte sie leise.

Jason schüttelte den Kopf, seine Augen wurden hart. „Ich sollte jetzt besser gehen," sagte er und machte Anstalten, das Zimmer zu verlassen.

„Jason. Bitte. Sag es mir," flehte sie, ihre Stimme brach fast.

Er hielt einen Moment inne, sah sie an, und Ivy dachte, er würde etwas sagen. Doch dann drehte er sich um und verließ das Zimmer. „Stell nichts Dummes mehr an," war das Letzte, was er sagte, bevor die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.

Ivy blieb allein zurück, das Gewicht der unbeantworteten Fragen und der drohenden Dunkelheit lastete schwer auf ihr. 


Am nächsten Tag, als Boris ihr Essen brachte, legte er ihr ein Kartenspiel auf den Tisch. Ivy blickte ihn verwirrt an.

„Ich bringe Ihnen ein Spiel bei," sagte er und setzte sich auf den Boden. Ivy sah ihn an, als wäre er ein Geist. Doch als sie bemerkte, dass er es ernst meinte, rückte sie vom Stuhl ab, nahm die Karten und setzte sich zu ihm. In seinen Augen lag eine unerwartete Wärme, und für einen Moment schien die düstere Realität ihrer Situation in den Hintergrund zu treten. Sie spürte, dass sie nicht mehr allein war. Sie hatte einen Verbündeten.

Forbidden Desire: Alpha's GeheimnisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt