44. Kapitel

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Angespannt versuchte ich zu erkennen, was sich vor meinem Versteck abspielte. Zweimal lief eine Gruppe Männer und Frauen scheinbar zielstrebig vorbei, doch niemand kam auf die Idee, hinter der alten Tür nachzusehen. Stattdessen durchsuchten sie offenbar die gesamte Umgebung, ehe sie in eine andere Richtung verschwanden. Ich atmete erleichtert aus und verließ schnell mein notdürftiges Versteck. Wenn sie feststellten, dass sie an der falschen Stelle suchten, wollte ich lieber nicht mehr hier sein.
Lautlos schlich ich bis zur nächsten Seitengasse, spähte hinein - und stieß augenblicklich mit jemandem zusammen. Reflexartig schlug ich zu und richtete gleichzeitig die Pistole auf meinen Angreifer. Gerade, als ich abdrücken wollte, hielt mich eine ungläubige Stimme auf. "Lola?"
Perplex ließ ich die Waffe sinken und starrte mein Gegenüber an; erst jetzt realisierte ich wirklich, wer da vor mir stand. "Lukas? Was zum Teufel machst du denn hier?"
"Das selbe könnte ich dich fragen", er schüttelte verwirrt den Kopf, "ungefähr zehn Minuten, nachdem du dran warst, bin ich reingegangen. Eigentlich dachte ich, dass du die Prüfung schon längst beendet hättest." Ja, das war der ursprüngliche Plan gewesen. Ich hatte mir zwar spätestens, nachdem ich zehn Minuten im Lüftungsschacht verbracht hatte, schon gedacht, dass immer mehrere von uns die Prüfung gleichzeitig absolvierten, doch auf die Idee, dass wir uns begegnen könnten, war ich nicht gekommen.
"Glaubst du, es war geplant, dass wir uns treffen würden?" Nachdem ich mich versichert hatte, dass vorerst niemand anderes in der Nähe war, lehnte ich mich ratlos an die Wand und sah Lukas fragend an.
"Geplant vielleicht nicht unbedingt, ich würde eher sagen, dass uns die Möglichkeit offen stand", schulterzuckend trat er einen imaginären Stein aus dem Weg. "Jedenfalls ist es besser zu zweit zu sein. So haben wir hoffentlich etwas größere Chancen das Ganze einigermaßen gut zu überstehen. Wo hast du eigentlich die Waffe her?"
"Einem unserer Gegner abgenommen, war ziemlich einfach", erklärte ich leise, während wir gemeinsam durch die leeren Gassen liefen. Einerseits freute ich mich, Lukas begegnet zu sein und somit nicht mehr vollkommen allein durch dieses Labyrinth irren zu müssen, andererseits traten damit auch neue Probleme auf. Beispielsweise war da die Frage, was man tun sollte, wenn der andere verletzt oder geschnappt wurde. Helfen, oder doch lieber sich selbst retten, ich wusste es nicht.
Schweigend, jeder in seine eigenen Gedanken versunken, eilten wir zwischen den niedrigen Gebäude hindurch. Erneut beschlich mich das unangenehme Gefühl, dass das alles zu einfach war. Damon plante garantiert irgendetwas, doch ich hatte nicht die leiseste Idee, was. Aber er würde uns nicht so ohne weiteres entkommen lassen, soviel stand fest.
"Scheiße", Lukas war so abrupt vor mir stehen geblieben, dass ich schmerzhaft gegen ihn lief. Verärgert trat ich ein Stück zur Seite, um ihn zu fragen, was das denn bitte sollte, als mein Blick auf das Geschehen vor uns fiel. Meinen Ärger auf Lukas vergaß ich augenblicklich wieder, ich hätte wohl nicht anders reagiert.
Wir hatten mit dem Ende der Straße einen großen Platz erreicht, zu dem offenbar nur zwei Zugänge führten. Unserer und eine breiterere Gasse gegenüber. An sich kein Grund panisch zu werden, das eigentliche Problem waren die Leute, die auf dem Platz waren und uns bereits zu erwarten schienen. Fünf bewaffnete Männer und Frauen, allen voran Damon, der mich grinsend musterte. Soviel zum Thema, er wäre auf meiner Seite.
"Waffe runter, Prinzessin", befahl er noch immer schmunzelnd und näherte sich mir langsam. Ich warf einen hilfesuchenden Blick zu Lukas, der jedoch auch nur unsicher mit den Schultern zuckte. Für einen Moment überlegte ich, ob wir einfach schnell den Rückzug antreten sollten, verwarf den Gedanken aber sofort wieder und richtete stattdessen meine Pistole weiterhin auf Damon. Eine Flucht konnten wir vergessen, nach drei Schritten hätte uns a) Damon aufgehalten oder wir wären b) angeschossen worden.
"Warum sollte ich?", versuchte ich zumindest etwas Zeit zu schinden, bis wir einen richtigen Plan hatten, und wich unwillkürlich zurück. Meine Weigerung, seinen Befehl zu befolgen, quittierte Damon mit einem verärgerten Stirnrunzeln und gab jemandem hinter sich ein Zeichen. "Darum."
Beinahe gleichzeitig kamen zwei weitere Männer aus einer unscheinbaren Tür links von uns und zerrten jeweils eine gefesselte Person mit sich. Erschrocken erkannte ich Anne, die mich genauso geschockt anstarrte, und Kevin. Dass die Beiden nicht freiwillig mitgekommen waren, war offensichtlich.
"Was soll das?" Vergeblich versuchte ich das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. Es war nur eine Übung, ein Test, wie ich reagieren würde, aber es sah so schrecklich real aus. Als wären Anne und Kevin tatsächlich in ernsthafter Gefahr.
"Ganz einfach, entweder ihr zwei ergebt euch oder die Beiden sterben. Eure Entscheidung", beantwortete Damon lächelnd meine Frage, als würden wir gerade über das Wetter reden. Unwillkürlich versteifte ich mich und sah kurz zu Anne, die vehement den Kopf schüttelte. Natürlich würden sie nicht sterben, doch mussten wir uns in dieser Prüfung nicht so verhalten, als wäre alles real? In dem Fall würde ich allein über das Schicksal von Anne und Kevin entscheiden müssen, denn Lukas stellte ohne Waffe keinerlei Bedrohung für unsere Gegner dar, ob er aufgab oder nicht, spielte für Damon keine Rolle. Im Endeffekt entschied ich also sogar über drei Leben, abgesehen von meinem eigenen.
Verunsichert huschte mein Blick über die einzelnen Gesichter, hoffend dass mir jemand die Entscheidung abnehmen würde, während meine Gedanken rasten. Auf so eine Situation hatte uns nie jemand vorbereitet, ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Vor meinem inneren Auge spielten sich verschiedene Szenarien ab, alle mit einem ernüchternden Ergebnis. Wenn ich Damon erschießen würde, wären immer noch mehr als genug Gegner übrig, wegrennen schied ebenfalls aus und ob die Gefangenen überhaupt am Leben bleiben würden, konnte ich auch nur raten.
Seufzend fokussierte ich Damon erneut mit zusammengekniffenen Augen. "Woher weiß ich, dass du sie nicht töten wirst, sobald ich die Waffe weg getan habe?"
"Gar nicht", er zog ungeduldig eine Augenbraue hoch. "Und ich sagte aufgeben, das heißt solange du dich nicht widerstandslos hast fesseln lassen, ist hier niemand außer Gefahr."
Toll, ich hatte also die Wahl zwischen 'sie werden auf jeden Fall getötet' und 'sie werden wahrscheinlich getötet'. Großartig, das nannte man dann wohl eine Dilemma-Situation.
"Das willst du doch nicht ernsthaft machen, oder?" Lukas sah mich entgeistert an.
Ohne Damon aus den Augen zu lassen, zuckte ich mit den Schultern. "Habe ich denn eine Wahl?" Betont langsam beugte ich mich nach unten, legte die Pistole vor mich auf den Boden und trat sie zur Seite, ehe ich mich mit erhobenen Händen wieder aufrichtete. "Zufrieden?"
Ein paar Zentimeter neben mir schnellte plötzlich ein Geschoss vorbei, gefolgt von einem unterdrückten Fluchen hinter mir. Überrascht wollte ich mich umdrehen, wurde jedoch von einem herrischen "Stehen bleiben!" gestoppt. Seufzend behielt ich meine Position bei und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie zwei von Damons Leuten den stöhnenden Lukas wegbrachten. Ich konnte nur raten, was sie dazu veranlasst hatte, ihn anzuschießen, vermutlich hatte er versucht abzuhauen. Ich sagte ja, dass diese Option ausschied.
"Du hättest mich vorhin doch lieber 'töten' sollen", Damons raue Stimme dicht neben meinem Ohr ließ mich erschrocken zusammenzucken. Ohne dass ich es bemerkt hatte, war er hinter mich getreten und zog meine Arme auf meinen Rücken. Während ich mich noch über meine Schreckhaftigkeit ärgerte, spürte ich kaltes Metall an meinen Handgelenken, gefolgt von einem leisen Klicken. "Ernsthaft? Handschellen?", murmelte ich spöttisch und versuchte das unangenehme Gefühl in den Armen durch ein leichtes Schütteln zu vertreiben. Vergeblich, wie ich nervös feststellte. Stattdessen schienen sich die metallischen Fesseln nur noch mehr zusammen zuziehen.
"Sie sind einfach viel praktischer, Liebes", schmunzelnd zog er mich dichter an sich und legte kurz den Kopf auf meine Schulter, ehe er mich durch einen leichten Druck gegen meine Hüfte zwang vorwärts zu gehen. "Abgesehen davon solltest du die diesmal nicht so einfach abbekommen können." Da war allerdings etwas dran, ich konnte mir nicht im Entferntesten vorstellen, meine Hände irgendwie wieder frei zu bekommen.
"Also ist die Prüfung jetzt vorbei?", traute ich mich nach ein paar Minuten, in denen wir schweigend vor den anderen her liefen, zu fragen. Mit Anne und Kevin konnte ich leider nicht sprechen, jeder Versuch meinerseits wurde von Damon vereitelt, bis er mich schließlich genervt an den Anfang und die anderen Beiden an das Ende der Gruppe gebracht hatte.
"Nein. Keine Sorge, ich sage dir schon rechtzeitig Bescheid." Offenkundig belustigt schob Damon mich durch einen weiteren Nebeneingang. Ich hatte es inzwischen bereits aufgegeben, mir den Weg einprägen zu wollen. Wahrscheinlich ging er extra ein paar Wege mehrmals entlang, um mich vollends zu verwirren.
"Aber..." Meine Antwort wurde durch einen gellenden Schrei unterbrochen, gleichzeitig erloschen plötzlich alle Lampen, so dass wir in völliger Dunkelheit standen. Ich spürte, wie sich Damons Griff an meinem Oberarm verstärkte und unterdrückte den Impuls, einen Fluchtversuch zu starten. Solange er mich in irgendeiner Weise berührte, hatte ich sowieso keine Chance.
"Wer zum Teufel hat das Licht ausgemacht?", zischte jemand neben mir.
"Woher soll ich das wissen? Wahrscheinlich irgendjemand, der uns einen Streich spielen will", knurrte Damon verärgert und zog mich in einem nicht unbeträchtlichen Tempo weiter. Unsicher stolperte ich hinter ihm her und betete, dass wir nicht gegen eine Wand rannten.
"Verdammt!" Da hatte wohl jemand weniger Glück. Angestrengt versuchte ich zumindest irgendetwas zu erkennen, doch die Dunkelheit verschluckte alles, ich könnte nicht einmal jemanden sehen, wenn er direkt vor mir stände.
"Wer auch immer dafür verantwortlich ist, sollte lieber schnellstmöglich verschwinden", murmelte Damon und blieb kurz stehen, um sich, wie auch immer, zu orientieren. Verwirrt bemerkte ich, dass er mich dabei tatsächlich kurz losließ. Das war meine Chance, jetzt oder nie. Lautlos wich ich ein Stück zurück in die Richtung, wo ich die Wand vermutete und sank in die Knie. Hoffentlich fiel jetzt niemand versehentlich über mich, das würde meinen ganzen Plan zunichte machen.
"Lola? Wo zur Hölle bist du?" Ein paar Zentimeter neben mir spürte ich einen leichten Luftzug und machte mich noch kleiner. Jetzt bloß kein Geräusch machen, dann wurde ich eventuell nicht entdeckt.
So verharrte ich eine Weile, bis sich Damons fluchende Stimme und mehrere Schritte schließlich entfernten. Erleichert rappelte ich mich auf und ging in die entgegengesetzte Richtung, immer darauf bedacht die Wand zu berühren. Ich hatte zwar noch keine Idee, wie ich die Handschellen loswerden sollte, aber zumindest hing Damon nun nicht mehr an mir.
"Hallo?", stirnrunzelnd blieb ich stehen, als ich gegen etwas Weiches stieß. War doch noch jemand anderes zurückgeblieben?
"Lola?" Zu meiner Freude erkannte ich Annes Stimme, sie konnte also ebenfalls fliehen. Ich wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als eine gleißende Helligkeit uns plötzlich blendet.
Orientierungslos blinzelte ich die tanzenden Punkte vor meinen Augen weg, bis ich wieder klar sehen konnte. Anne erging es ähnlich, doch sie fing sich schneller und lief bereits weiter.
"Kommst du endlich? Jetzt, wo das Licht wieder an ist, wird es ziemlich einfach sein uns zu finden", rief sie mir zu und verschwand um die nächste Ecke. So schnell ich konnte folgte ich ihr, bis wir nebeneinander liefen. "Wohin gehen wir? Und warum bist du überhaupt hier, müsstest du nicht in irgendeinem Raum sitzen und dich langweilen?"
"Wir gehen zum Überwachungsraum, wenn wir den erreicht haben, ist die Prüfung vorbei. Eigentlich war ich ja schon fertig, aber Damon hielt es für nötig, einige von uns wieder als Gefangene hier rein zu bringen und die Prüfung somit zu verlängern", erklärte meine Freundin verärgert. "Hast du eine Idee, wie wir die Handschellen abkriegen?"
Ich zuckte ratlos mit den Schultern. "Nein, leider nicht."
"Mhm, dann wird es wohl so gehen müssen."
Die nächsten paar Minuten irrten wir schweigend durch die Gänge; Anne schien den Weg zwar so ungefähr zu kennen, aber eben nur ungefähr. Mit ein bisschen Pech liefen wir sogar in die komplett falsche Richtung. Seufzend versuchte ich irgendetwas wiederzuerkennen und dachte nach. Hatte ich bis jetzt einigermaßen gut abgeschnitten oder total versagt? Würde ich vielleicht doch durchfallen? Und was hätte ich anders machen können? Die Frage, ob alle anderen ebenfalls solche Probleme hatten, erübrigte sich. Wahrscheinlich erging es einigen sogar noch schlechter als mir.
"Psst." Anne spähte vorsichtig um die Ecke und sah mich besorgt an. "Es stehen mehrere Männer vor der Tür, so schaffen wir es nie da rein." Also das war aber wirklich unfair, sollten wir so kurz vor dem Ziel noch aufgehalten werden?
"Und was machen wir jetzt? Die werden ja wohl kaum einfach verschwinden, sobald wir auftauchen", flüsterte ich und warf sicherheitshalber ebenfalls einen Blick zu unseren Gegnern. Sie schienen vollkommen beschäftigt zu sein und bemerkten uns nicht. Noch nicht, wohl gemerkt.
"Ihr zwei macht jetzt gar nichts mehr, die Prüfung ist vorbei." Vor lauter Besorgnis bezüglich der Männer vor uns hatten wir vollkommen vergessen nachzusehen, ob sich nicht jemand aus der anderen Richtung näherte.
Erleichtert spürte ich, wie Damon die Handschellen aufschloss und rieb mir die schmerzenden Handgelenke. Gleichzeitig fiel plötzlich die ganze Anspannung von mir ab; ich hatte es geschafft, endlich war diese verdammte Prüfung zu Ende. 'Außer, Damon will dich auch nochmal als Druckmittel für jemand anderen mitnehmen', erinnerte mich meine innere Stimme hämisch an Annes Situation.

Caeth-Die Rebellen || #Wattys2015Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt