79. Kapitel

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Unruhig trat ich von einem Fuß auf den anderen und streckte mich, während mein Blick über die versammelte Menge huschte. Ich wusste zwar, dass wir viele waren, doch es war etwas anderes, von Tausenden zu sprechen, als sie tatsächlich vor sich zu sehen. Erst recht dann, wenn man verzweifelt nach seinen Freunden suchte, um sich zu verabschieden.
Zoey hatte ich vor ein paar Minuten getroffen, doch von den anderen fehlte jede Spur. Ich vermutete, dass sie irgendwo am entgegengesetzten Ende der Halle waren, aber sicher war ich mir nicht. Und selbst wenn, hätte ich keine Chance gehabt, zu ihnen zu kommen.
"Bereit?" Unbemerkt war Colin neben mich getreten und unterbrach meine Suche.
"Nein, eigentlich nicht", antwortete ich und seufzte. "Hast du schon Nachrichten von den anderen Gruppen?"
"Mehr oder weniger. Die komplette Kommunikation ist ausgefallen, also vermute ich mal, dass Gruppe Eins Erfolg hatte. Christina versucht mit einigen Wissenschaftlern gerade Kontakt zu Damon herzustellen, aber bis sie das hinbekommen, werden wir schon unterwegs sein." Er musterte ebenfalls eine Weile die Menge, ehe er mir kurz die Hand auf die Schulter legte. "Ich muss wieder nach Vorne, kommst du mit?"
Bevor ich antworten konnte, drehte er sich schon um und schob sich durch die nervösen Menschen. Ich überlegte einen Moment, ob ich vielleicht doch noch irgendwie Anne finden konnte, gab es aber nach einem weiteren Blick hinter mich auf und folgte Colin. "Gibts einen bestimmten Grund, dass ich mitkommen soll? Wir trennen uns doch sowieso erst später von den anderen."
"Ich weiß, aber erstens ist es mir lieber, wenn alle aus meinem Team von Anfang an zusammen bleiben und zweitens bringt Damon mich um, wenn dir irgendetwas passiert, weil ich nicht aufgepasst habe."
"Also hat er dich gebeten, ein Auge auf mich zu haben? Als ob du nichts anderes zu tun hättest", sagte ich kopfschüttelnd. Es würde mich zwar beruhigen, wenn Colin in der Nähe wäre, aber er konnte schließlich nicht ununterbrochen dafür sorgen, dass mir nichts geschah. Diese Aufgabe würde ich selbst übernehmen müssen.
"Gebeten würde ich es nicht gerade nennen. Tu' mir einfach den Gefallen und lass dich nicht umbringen, okay?", erwiderte er lachend und gab irgendjemandem ein Zeichen, woraufhin sich auch der Rest der Soldaten in Bewegung setzte. In ein paar Minuten würden wir die Züge erreichen. Von da aus war es nur noch eine knappe halbe Stunde bis zum Zentrum New Yorks. Eine halbe Stunde bis der Kampf auch für uns beginnen würde.
Ich erschauderte unwillkürlich, als ich daran dachte, dass wir tatsächlich einen Krieg, auch wenn er nicht sehr lange andauern würde, führen würden. Das war kein Training mehr, in dem man höchstens mit Betäubungsmunition aufeinander schoss und ein paar Minuten später keine Nachwirkungen mehr spürte. Es war bitterer Ernst und mir schien es, als würde der Tod bereits grinsend auf seine ersten Opfer warten.
Wer weiß - vielleicht hatte er sie auch schon gefunden.

***

Angespannt umklammerte ich mein Gewehr fester, während mein Blick ununterbrochen von einer Seite zur anderen wanderte. Seit wir uns von den restlichen Gruppen getrennt hatten, waren wir nur noch etwas mehr als fünfhundert Männer und Frauen. Eine verschwindend geringe Menge im Vergleich zu der vorigen Anzahl, doch das war es nicht, was mir Sorgen bereitete.
Zu der dumpfen Angst, die mich seit Tagen begleitete, kam nun noch ein anderes Gefühl. Eine unbegründbare Vorahnung, aus nichts anderem erwachsen, als der Stille, die uns umgab. Wir waren mitten im Zentrum der größten Stadt des Landes und alles was ich hörte, war das gleichmäßige Geräusch unserer Schritte. Kein Verkehrslärm, keine schwatzenden Menschen, keine Musik aus einem offenen Fenster. Gespenstisch, als wäre die Stadt ausgestorben. Dabei war das unmöglich. Niemand wusste, dass genau heute der Angriff stattfinden würde, also konnten sie nicht eine Evakuierung angeordnet haben. Doch wo waren dann alle? Selbst wenn sie aus Angst vor uns in die Häuser geflohen wären, müssten irgendwo noch Autos in Bewegung sein. Eine Milliardenstadt wie New York schaltete sich nicht innerhalb weniger Minuten ab.
"Irgendetwas stimmt hier nicht", murmelte jemand hinter mir. Ein anderer lachte daraufhin, verstummte jedoch nach wenigen Sekunden als würde er fürchten, die Stille nicht unterbrechen zu dürfen. Insgeheim gab ich ihm Recht, trotzdem war mir sein Lachen lieber, als das ewige Schweigen. Wenn ich's genau bedachte, würde ich sogar das Auftauchen gegnerischer Soldaten begrüßen. Alles war besser als die Ruhe.
Die Ruhe vor dem Sturm; ich hatte nie verstanden, warum dieser Zeitraum so verhasst war, warum man die Minuten der Entspannung nicht genoss. Nun, jetzt kannte ich den Grund. Zu wissen, dass jeden Moment der Sturm losbrechen konnte, jedoch keine Ahnung zu haben, wann genau, ließ mich fast wahnsinnig werden. Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, registrierten jede noch so kleine Bewegung, auch wenn es nur vom Wind getragene Blätter waren.
Ein rotes Aufblitzen am Rande meines Gesichtsfeldes ließ mich herumwirbeln. Im selben Moment brüllte irgendjemand "RUNTER!". Reflexartig ließ ich mich zu Boden fallen, schrammte mir die Handflächen an dem harten Asphalt auf, hörte wie aus weiter Ferne Schüsse knallen, spürte den Luftzug der vorbeizischenden Kugeln über mir.
Keine zwei Meter vor mir presste eine junge Frau schluchzend die Hände auf ihre Seite. Ununterbrochen strömte Blut aus ihrer Wunde, färbte ihren Pullover, ihre Jacke, ihre Hände, die Straße unter ihr in einem grausigen Rot, floss in meine Richtung. Ein hoher Schrei gellte in meinen Ohren, verstummte erst, als mich irgendjemand hoch- und mit sich zog.
"Aber ...", protestierte ich schwach, zeigte auf die verletzte Frau und begriff, dass ich meinen eigenen Schrei gehört hatte.
"Wir können sie nicht mitnehmen. Lauf!" Er stieß mich von sich und ich stolperte zu einer nahegelegenen Hauswand, warf mich wieder zu Boden, als erneut Schüsse die Luft zerfetzten.
Zitternd drückte ich mich auf den rauen Untergrund und kämpfte gegen die aufkommende Panik an. All die Dinge, die ich in den letzten Monaten gelernt hatte, waren wie weggeblasen. Ich konnte mich nicht erinnern, was in einer derartigen Situation zu tun war, genauso wenig ob Colin noch irgendwelche Anweisungen gegeben hatte. Egal, was ich versuchte, mein Kopf blieb leer, weigerte sich, mir oft geprobte Abläufe zu zeigen. Im Training hatte ich nie Probleme damit, ruhig zu bleiben und mich zu konzentrieren, umso mehr steigerte sich meine Panik, als es diesmal nicht funktionierte. Das hier war kein Training, es gab keine zweiten Chancen, der Tod war überall - und ausgerechnet jetzt versagte ich.
Ausgerechnet dann, wenn ein winziger Fehler in Sekundenschnelle mein Leben beenden konnte.
Eine plötzlich Stille ließ mich verwirrt den Kopf heben. Es war nicht wirklich ruhig, das Stöhnen und Wimmern der Verletzten jagte mir noch immer Schauer über den Rücken. Doch im Gegensatz zu den letzten Minuten, in denen ununterbrochen Schüsse knallten, war es nun bedrückend still. Warum zum Teufel hatten sie aufgehört?
Mein Blick wanderte über den Platz, der unser aller Verderben werden sollte. Sie mussten hier auf uns gewartet haben, anders konnte ich es mir nicht vorstellen. Nicht umsonst war mindestens ein Drittel unserer Gruppe hier gefallen, tot oder verletzt. Ich schluckte die aufsteigende Übelkeit bei dem ganzen Blut herunter und versuchte nicht zu sehr auf die Toten zu achten. Möglicherweise sollte ich den Verletzten helfen, irgendwie zumindest, sie vielleicht aus dem direkten Schussfeld holen und notdürftig die Wunden versorgen.
Doch ich rührte mich nicht. Eine eigenartige Lähmung hatte Besitz von mir ergriffen, ließ mich alles wie in Zeitlupe wahrnehmen.
D

en älteren Mann, der links von mir versuchte, in den Schutz einer Mauer zu robben. Die beiden Frauen, die in sich noch im Tode zu umarmen schienen. Den zurückgelassenen Bus, hinter dem sich mehrere andere Rebellen verschanzt hatten. Das Mädchen, das schluchzend neben einem jungen Mann kniete. Den Soldaten, der mehrere hundert Meter vor mir wieder auf die Straße trat, einen kleinen Gegenstand in der Hand, und Schwung holte. Ein lauter Knall schien mein Trommelfell zu zerreißen. Keine Sekunde später brach der Mann zusammen.
Eine Kugel hatte ihn in den Kopf getroffen.
Halb saß, halb kniete ich auf der Straße, im Schatten des Hochhauses. Ich spürte, wie sich winzige Steinchen schmerzhaft in mein Knie bohrten und starrte auf das Gewehr in meinen Händen. Ich hatte geschossen.
Noch während ich erkannt hatte, dass er eine Granate werfen wollte, hatte ich mich aufgerichtet, gezielt, geschossen. Innerhalb von Sekunden, ohne auch nur kurz nachzudenken, hatte ich ihn getötet. Reflexartig, als würde man sich unter einem herannahendem Schlag wegducken. Einfach so.
Ein paar hundert Meter entfernt explodierte die Bombe. Die Detonation zerstörte die umstehenden Häuser, Fensterscheiben zerbrachen klirrend und rieselten auf uns herab.
"Bravo, Lola, du hast uns vermutlich gerade allen das Leben gerettet."
Ich sah auf, riss meine Augen gewaltsam von den brennenden Fassaden los. Mechanisch ergriff ich Colins ausgestreckte Hand und ließ mich von ihm auf die Beine ziehen. Vielleicht hatte ich uns tatsächlich gerettet, doch beruhigen tat mich das nicht. Die Lähmung ließ nach, sorgte dafür, dass der Schrecken, die Angst und die grausigen Bilder mich wieder erreichten.
Würgend drehte ich dem Schauplatz des Massakers den Rücken zu. Während ich mein beschauliches Frühstück endgültig erbrach, registrierte ich, wie Colin einige Männer beauftragte, sich um die Verwundeten zu kümmern und versuchte, Kontakt zu den restlichen Gruppen herzustellen.
Ich bewunderte ihn für seine Ruhe und Gelassenheit, auch wenn sie möglicherweise nur äußerlich war. Doch im Vergleich zu ihm, der auch jetzt noch den Überblick behielt und sich nicht aus dem Konzept bringen ließ, war ich gerade ein Wrack, wollte mich am liebsten hysterisch heulend in irgendeiner Ecke verkriechen.
Einen Trost gab es zumindest - ich war nicht die Einzige, der es so erging.
"Alle, die noch einigermaßen in der Verfassung zu kämpfen sind, kommen mit. Der Rest sucht mit den Verletzten die Gruppe der Ärzte, sie müssten irgendwo hier in der Nähe sein", rief Colin, ehe er sich brüsk umdrehte und los marschierte. Ich verstand, dass wir so schnell wie möglich hier verschwinden sollten, dennoch war ich einen Moment lang überfordert. Woher sollte ich denn wissen, ob ich einigermaßen kampfbereit war?
Noch während ich über diese Frage nachdachte, erkannte ich, dass es sinnlos war. Ich war bereits, den sauren Geschmack in meinem Mund ignorierend, Colin gefolgt.
"Alles in Ordnung?" Er sah mich von der Seite an, doch ich starrte beharrlich auf den Boden.
"Nein."
"Hätte mich auch gewundert."
Ich biss mir auf die Zunge, als ich spürte, wie mir Tränen in die Augen traten und blinzelte sie so gut wie möglich weg. "Wie machst du das? So ruhig bleiben, meine ich. Ich habe das Gefühl, jeden Moment losschreien zu müssen und du ...", ich brach ab, wusste plötzlich selbst nicht mehr so genau, was ich sagen wollte.
"Jahrelanges Training. Auch wenn nur die Wenigsten davon wissen, gibt es durchaus etwas für die Armee von Caeth zu tun, selbst wenn man von unliebsamen Aufständischen absieht."
Es hätte mich interessiert, was genau er damit andeuten wollte, doch ein Blick in sein Gesicht brachte mich dazu, diese Fragen nicht zu stellen. Stattdessen holte ich tief Luft, verdrängte die Bilder von Toten und schwer Verwundeten aus meinem Kopf und konzentrierte mich wieder auf die Umgebung. Noch einmal durften wir nicht so unvorbereitet in eine Falle laufen.
Wo wir gerade bei Falle waren .... "Ist es überhaupt klug, jetzt noch zum Tower zu gehen? Ich meine, offensichtlich haben die uns bemerkt und können sich garantiert denken, wohin wir unterwegs sind."
"Falls du damit andeuten willst, dass die Regierungsmitglieder verschwinden werden, muss ich dich enttäuschen. Der Tower ist das am besten gesicherte Gebäude im Umkreis von mehreren tausend Kilometern. Sie wären dumm, ihn zu verlassen und dann Gefahr zu laufen, uns zu begegnen", Colin lächelte spöttisch, ehe er leicht nach links nickte. "Ist dir aufgefallen, dass wir seit drei Minuten eine Eskorte haben? Es würde mich interessieren, was genau sie damit bezwecken wollen."
Wie von selbst huschte mein Blick in die besagte Richtung. Tatsächlich konnte ich immer dann, wenn eine andere Straße unsere kreuzte, eine Gruppe dunkel gekleideter Soldaten erkennen. Wäre ich nicht explizit darauf aufmerksam gemacht worden, hätte ich sie vermutlich nie bemerkt.
Erschrocken, wie schnell ich sie einfach übersehen hatte, beobachtete ich die Straßen rechts von mir noch intensiver. Die Frage, warum die Soldaten uns zwar folgten, aber nicht angriffen, würde sich schon noch schnell genug klären.
Im Gegensatz zu der, wie wir in den am besten bewachten Hochsicherheitstrakt des Landes eindringen sollten. Auf einen Überraschungseffekt würden wir zumindest nicht bauen können.
Meine weiteren Gedanken wurden von einer Bewegung, die ich aus den Augenwinkeln wahrnahm, unterbrochen. Wenn ich mich nicht gewaltig täuschte, waren nun auch rechts von uns feindliche Truppen. Und, was noch schlimmer war, mehrere hundert Meter vor uns erschienen weitere Soldaten.

Caeth-Die Rebellen || #Wattys2015Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt