70. Kapitel

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Eines hatte ich bei meinem Bestreben, mit einem möglichst dramatischen Abgang den Besprechungsraum zu verlassen, ganz sicher nicht bedacht - ich hatte keinen Ahnung, wo ich stattdessen hingehen sollte.
Ein eigenes Zimmer hatte ich offensichtlich noch nicht, mal ganz davon abgesehen, dass ich nicht wusste, wo es wäre. Selbiges galt für meine wenigen Besitztümer, sofern sich überhaupt jemand die Mühe gemacht hatte, sie aufzuheben.
Mich selbst dafür verfluchend, so impulsiv gehandelt zu haben und einfach abgehauen zu sein, irrte ich durch die Gänge und hoffte, zufällig einem bekannten Gesicht über den Weg zu laufen. Theoretisch hätte ich zwar auch wieder zurück zum Besprechungsraum gehen können, doch sowohl mein Stolz als auch mein Unwillen, mit Damon oder Christina in näherer Zukunft ein Wort zu wechseln, hielten mich davon ab.
Die Tatsache, dass ich mir den Weg nicht gemerkt hatte, könnte eventuell auch eine Rolle spielen.
Und so interessant die kahlen Wände auch waren, ich hatte nicht unbedingt Lust, noch viel mehr Zeit damit zu verbringen, durch die Gegend zu laufen. Früher oder später musste ich doch mal auf etwas anderes stoßen, einen Aufzug oder eine Treppe zum Beispiel. Oder die Krankenstation, irgendetwas an dem ich mich orientieren konnte.
Die Krankenstation! Ich schlug mir selbst gegen die Stirn.
Warum war ich da nicht früher drauf gekommen? Dort würde ich garantiert Liz finden und sie würde mir helfen, so schnell wie möglich ein akzeptables Bett, eine heiße Dusche und bestenfalls neue Klamotten zu bekommen.
"Entschuldigung?", voller neuem Elan lief ich auf die erstbeste Person vor mir zu. "Könnten Sie mir vielleicht..." Inmitten meiner Frage drehte sich die brünette Frau um, starrte mich eine Sekunde lang an und sank beinahe ehrfürchtig vor mir in die Knie.
Völlig verwirrt sah ich auf sie herunter und versuchte zu begreifen, was genau sie damit bezwecken wollte. Ich schätzte sie auf Ende dreißig, doch die unzähligen Sorgenfalten in ihrem Gesicht machten sie vermutlich älter als sie war. Kurz erwägte ich, dass sie vielleicht einfach nur einen Schwächeanfall hatte oder sich zufällig direkt vor mir ihre Schuhe zubinden wollte, musste beide Varianten jedoch verwerfen, als sie mich mit Tränen in den Augen und einem überglücklichen Lächeln ansah. "Vielen, vielen Dank, Sie können sich gar nicht vorstellen, wie dankbar ich Ihnen bin, dass Sie meine Tochter gerettet haben." Aha, sie spielte also Vorfall auf dem Weg von New York hierher an. Jetzt verstand ich allmählich, was Damon gemeint hatte. Unbehaglich half ich der Frau wieder hoch und erwiderte unsicher ihr Lächeln. "Aber deswegen müssen Sie doch nicht vor mir auf die Knie gehen. Wirklich, ich habe bloß das getan, was jeder andere auch getan hätte, Sie müssen sich dafür nicht bei mir bedanken."
Unbeirrt von meinen Worten strahlte sie mich weiterhin an und nahm meine Hand in ihre. "Doch, das muss ich. Ohne Ihren Einsatz wäre meine Tochter wahrscheinlich nicht mehr am Leben und dafür kann ich Ihnen nicht genug danken. Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann, egal was, sagen Sie es mir bitte. Das was Sie für mich und so viele andere getan haben, kann man nicht mit Geld aufwiegen, aber vielleicht...."
"Es würde mir schon viel helfen, wenn Sie mir den Weg zur Krankenstation sagen könnten", unterbrach ich sie schnell, ehe sie mir noch irgendwelche Angebote, die ich unmöglich annehmen könnte, machen würde. Diese ganze Situation verunsicherte mich zutiefst, ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wie ich mich zu verhalten hatte oder auf die enorme Dankbarkeit dieser Frau reagieren sollte.
Umso erleichterter war ich, als sie mir, voller Freude etwas für mich tun zu können, erklärte, wo lang ich gehen und welche unauffälligen Türen ich nehmen musste.
Sie wollte mich am liebsten sogar dahin begleiten, doch dieses Angebot konnte ich erfolgreich ablehen.
Diese Begegnung allein war schon etwas unheimlich, es war mir deutlich lieber, wenn ich so etwas in Zukunft vermeiden könnte. Ich hoffte, dass das nur ein Einzelfall war, der sich nicht so schnell wiederholen würde. Und falls doch, konnte ich nur beten, dass die ganze Sache innerhalb von ein paar Tagen wieder vergessen sein würde.

***

Unschlüssig stand ich in dem Raum, den man mit viel guten Willen noch als Wartezimmer bezeichnen konnte, und versuchte mir selbst genügend Mut zu machen, einfach in das nächstliegende Behandlungszimmer zu platzen. Einerseits hatte ich eigentlich schon lange mehr kein Problem damit gehabt, wenn es sein musste alle Grenzen der Höflichkeit zu überschreiten, doch heute hielt mich irgendetwas davon ab. Vielleicht war es die Tatsache, dass ich meine ganze Wut schon an Christina und Damon ausgelassen hatte, die mich dazu brachte mich auf einen der wenigen Stühle zu setzen und abzuwarten, vielleicht war es auch etwas anderes.
Jedenfalls war mein Bedürfnis, so schnell wie möglich mit Liz zu reden, auf dem Weg hierher merklich gesunken. Ein kleiner Teil in mir fürchtete, dass ihre Reaktion darauf, mich wiederzusehen, ähnlich enttäuschend ausfallen würde wie Christinas. Und obwohl der Teil, der nicht daran glaubte, deutlich größer war, ließen sich die Zweifel nicht vertreiben. Am liebsten würde ich die Begegnung einfach überspringen und an der Stelle, wo wieder alles einigermaßen normal war, wieder herauskommen.
Stattdessen saß ich nun hier, betrachtete die bunten Bilder an der Wand gegenüber von mir und versuchte dem Drang, aufzustehen und wegzulaufen zu widerstehen.
Eigentlich seltsam, dass es hier tatsächlich noch so etwas wie Kunst gab; ich hätte erwartet, dass alles in diesem Lager auf das Nötigste reduziert wäre, nicht, dass sich jemand die Mühe machen würde, die Atmosphäre ein wenig aufzulockern.
Das Geräusch einer sich öffnenden Tür lenkte meine Aufmerksamkeit in den Gang links von mir. Liz stand, ein Klemmbrett mit mehreren Papieren und einem Stift in der Hand keine zwei Meter von mir entfernt und starrte mich ungläubig an.
"Lola?"
"Hi", sagte ich unsicher und lächelte versuchsweise. Bis jetzt war ihre Reaktion nicht gerade das, was ich mir erhofft hatte.
Als sie keine Anstalten machte, irgendetwas zu tun, abgesehen davon mich mit großen Augen anzusehen, stand ich zögerlich auf und ging zu ihr. Hatte sie vielleicht nicht mitbekommen, dass ich etwas gesagt hatte?
"Ich glaubs nicht, du bist es wirklich", murmelte sie plötzlich, erwachte aus ihrer Starre und umarmte mich fest. Überrascht und gleichzeitig unendlich erleichtert erwiderte ich die Umarmung. Ich spürte, wie die ganze Anspannung mit einem Schlag von mir abfiel und purer Freude über das Wiedersehen mit Liz Platz machte. Wie lange war es jetzt her, seit wir uns das letzte Mal getroffen hatten? Vier Wochen? Fünf? Es kam mir vor wie Jahre.
"Ich hab dich vermisst", flüsterte ich und meinte es auch so. Mir war nicht einmal bewusst gewesen wie sehr sie mir gefehlt hatte. "Ich dich auch, Lola", antwortete Liz im selben Tonfall, bevor sie einen winzigen Schritt zurück trat und mich ansah. "Du weinst doch nicht etwa, oder?"
Mein halbherziges Lächeln misslang ausnahmsweise mal nicht und ich schloss meine Freundin kurzentschlossen erneut in die Arme. "Nur, weil du es auch tust."

Caeth-Die Rebellen || #Wattys2015Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt