57. Kapitel

5.4K 492 101
                                    

Mit rasendem Herzen drückte ich mich tiefer in mein Versteck und versuchte, mein viel zu lautes Keuchen zu unterdrücken. Seit ich mich kurzerhand unter einen stinkenden Müllcontainer gequetscht hatte, waren schon gefühlte Stunden vergangen, doch ich schaffte es einfach nicht, mich zu beruhigen. Die Schritte eines jeden Menschen, der zufällig hier vorbeikam, katapultierten meinen Puls erneut in die Höhe. Ich versuchte mir einzureden, dass mich garantiert niemand hier vermuten würde. Die Männer, die mich verfolgt hatten, waren mindestens einmal an meinem Versteck vorbei gerannt, sonderlich beruhigen tat mich das trotzdem nicht. Vielleicht war ich ihnen entkommen, doch schon allein die Tatsache, dass Damon mich suchen würde, ließ mich erzittern. So wie ich ihn kannte, würde er nicht aufgeben, bis er mich wieder zurück in eine dunkle Gefängniszelle geschleift hatte und was er mir dann antun würde, wagte ich mir nicht vorzustellen. Schlimm genug, dass ich fliehen konnte, doch je länger ich mich ihm entziehen konnte, desto zorniger würde er werden.
Ein kleiner Teil in mir begann mich zu bedrängen, sofort freiwillig zurück zu gehen. Wenn ich jetzt reumütig wieder auftauchte, würde meine Strafe vielleicht nicht allzu schlimm ausfallen. Doch wenn ich noch länger wartete, würde es tausendmal schlimmer werden, als die letzten zwei Wochen.
Nein! Energisch schüttelte ich den Kopf, um die schrecklichen Gedanken loszuwerden. Ich würde mich nicht selbst ausliefern, nicht jetzt, wo ich endlich entkommen konnte. Damon würde mir so oder so das Leben zur Hölle machen, egal ob ich zurückging oder nicht. Wenn ich ihm, auf welche Art auch immer, wieder in die Hände fiel, konnte ich mir wirklich selbst die Kehle durchschneiden.
Beinahe lautlose Schritte, die sich mir langsam näherten, rissen mich aus meinem inneren Konflikt. In weniger als einer Sekunde hämmerte mein Herz wieder viel zu schnell gegen meine Brust und ich hielt unwillkürlich die Luft an. Den Schuhen nach zu urteilen schien die Person ein Mann zu sein und er blieb direkt vor mir stehen. Einer Panikattacke nahe presste ich verzweifelt meine Hände auf den Mund, um ein unbeabsichtigtes Wimmern zu ersticken. Er konnte nicht wissen, wo ich war, er konnte es einfach nicht. Es gab unzählige andere potentielle Verstecke, niemand würde auf die Idee kommen, dass ich mich unter einem Müllcontainer verbarg. Schon gar nicht Damon, der ganz genau wusste, dass ich an einer abgeschwächten Form von Platzangst litt und mich unter normalen Umständen niemals in so eine Situation begeben würde. Er würde mich bestimmt nicht einmal mehr in New York vermuten, sondern schon die Umgebung absuchen.
Wer auch immer da stand, hatte also sicher nur zufällig dort angehalten, vielleicht wollte er ja nur etwas in den Container werfen. 'Und deswegen wartet er so lange dort? Sehr unwahrscheinlich, wenn du mich fragst', kommentierte meine innere Stimme meine Gedanken skeptisch. Und als hätte der Mann sie gehört, beugte er sich quälend langsam nach unten. Noch ein kleines Stück und er würde mich sehen. Noch ein paar Zentimeter und mein ach so tolles Versteck wäre entlarvt. Mit weit aufgerissenen Augen presste ich mich gegen den kalten Boden, unfähig mich zu bewegen.
"Na wer sagt's denn, auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn." Angsterfüllt und gleichzeitig ungläubig starrte ich geradeaus. War ich gerade noch felsenfest überzeugt gewesen, dass meine Flucht ein unrühmliches Ende gefunden hatte, atmete ich jetzt erleichtert aus. Der Mann hatte mich nicht entdeckt, ganz im Gegenteil, er wusste wahrscheinlich nicht einmal, wer ich war, geschweige denn, dass ich gesucht wurde. Stattdessen hatte er lediglich eine alte Münze, die ich unter all dem Straßendreck nicht wahrgenommen hatte, aufgehoben und ging nun zufrieden pfeifend weiter.
War ich vielleicht doch etwas zu paranoid? Seufzend entspannte ich meine verkrampften Muskeln so gut wie möglich und schloss die Augen. Wenn das so weiter ging, würde ich mich vor lauter Panik nicht einmal unter diesem ekelhaften Müllcontainer hervortrauen. Dabei durfte ich es mir eigentlich nicht erlauben, auch nur eine Minute länger als notwendig in New York zu bleiben. Zu groß war die Gefahr, dass ich erkannt und festgenommen wurde.
Ich sollte wirklich auf der Stelle verschwinden, doch irgendetwas hielt mich davon ab. Immer wieder erfand ich neue Gründe, warum ich noch ein Weilchen länger hier liegen bleiben sollte. Vielleicht wollte ich nicht gehen, weil ich nicht wusste, wohin. Auf eine skurrile Art und Weise war diese Stadt mein Zuhause. Ich hatte mein ganzes Leben hier verbracht, erst in dem Kinderheim, dann bei den Rebellen. Auch wenn es nicht immer einfach gewesen war, hatte ich zumindest gewusst, wo ich schlafen konnte. Wo ich etwas zu essen bekam und wo jemand war, mit dem ich reden konnte.
Das würde mir am meisten fehlen; das Wissen, dass ich mindestens die nächsten Wochen, möglicherweise sogar länger, nicht einen meiner Freunde wiedersehen würde, trieb mir die Tränen in die Augen. Früher war ich mir immer sicher gewesen, auch alleine ganz gut klar zu kommen, doch ich hatte mich getäuscht. Ich gehörte nicht zu den Menschen, die problemlos in Einsamkeit leben konnten, ohne jemanden sonderlich nahe an sich ran zulassen. So verrückt es auch klingen mag, im Moment würde ich sogar Damons Gesellschaft dem Alleinsein vorziehen.

***

Eine sachte Berührung an meiner Nase brachte mich dazu, die Augen aufschlagen - und direkt in ein paar leuchtende zu blicken. Mit einem erschrockenem Schrei zuckte ich zurück und knallte bei dem Versuch aufzustehen gegen etwas Hartes, sodass ich stöhnend liegen blieb.
Orientierungslos krallte ich meine Finger in den steinigen Boden unter mir und versuchte, die Dunkelheit um mich herum zu durchdringen. Meine Atmung beschleunigte sich und ging in ein abgehacktes Keuchen über, als ich registrierte, dass zwischen dem Boden und dem Ding über mir gerade genügend Platz zum Liegen war. Kurz davor zu hyperventilieren, kroch ich verzweifelt in die Richtung, aus der ein kleiner Lichtschein drang. Ich musste hier sofort raus, so schnell wie irgendwie möglich raus.
Als ich endlich wieder einen Luftzug über mir spürte, zwang ich mich, langsam und tief Ein- und Auszuatmen, um mich zu beruhigen. Meine Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt und nun verfluchte ich mich selbst für meine Reaktion. Ich war offenbar unter dem Container eingeschlafen und hatte dabei kurzzeitig vergessen, was passiert war. Wenn es nicht bereits tiefste Nacht gewesen wäre, hätte ich mit meinem Rumgeschreie spätestens jetzt jemanden auf mich aufmerksam gemacht. Und das nur wegen einer dämlichen Ratte.
Verärgert rappelte ich mich ein Stück auf, ehe ich wieder zusammenklappte. Meine Beine waren von dem langen Liegen auf dem kalten Boden steif geworden und schienen mich nicht so recht tragen zu wollen. Mit zusammengebissenen Zähnen stützte ich mich an der Wand neben mir ab und schüttelte meine schmerzenden Gliedmaßen. Jetzt im Nachhinein betrachtet hätte ich wirklich schon eher verschwinden sollen.
Was mich wieder zum eigentlichem Thema brachte. Ich sollte mich unbedingt von diesem Ort entfernen, schon allein für den Fall, dass mich jemand entgegen aller Wahrscheinlichkeit doch gehört hatte. Dazu kam noch, dass ich bei Nacht vermutlich tatsächlich größere Chancen hatte, ungesehen die Stadt zu verlassen, und spätestens nach der Aktion mit der Ratte hellwach war.
Entschlossen stapfte ich in die entgegengesetzte Richtung aus der ich gekommen war und schlang zitternd die Arme um meinen Oberkörper. Nach Sonnenuntergang mussten die Temperaturen rapide gefallen sein und erinnerten mich schmerzlich daran, dass wir bereits Mitte November hatten. Nicht mehr lange und es würde schneien. Zum wiederholten Male bereute ich meine übereilte Flucht. Wenn ich mir noch die Zeit genommen hätte, wenigstens eine Jacke oder einen weiteren Pullover zu suchen, müsste ich mir jetzt keine Sorgen machen, zu erfrieren.
Auf einmal erschien mir die Idee, auf eine Zugfahrt zu verzichten und mich stattdessen zu Fuß durchzuschlagen, doch nicht mehr so reizvoll. Wenn ich nicht gerade irgendwo etwas zum Anziehen stehlen konnte, würde ich keine drei Tage durchhalten, von mehreren Wochen Untertauchen ganz zu schweigen.
Doch ich sah keine andere Möglichkeit. Newton hätte eventuell vergessen, die Züge zu kontrollieren, doch Damon war leider nicht so blöd. Sobald ich ein öffentliches Verkehrsmittel nutzen würde, würde ich entdeckt werden und das Risiko wollte ich nicht eingehen.
Also blieb doch nur die Variante zu laufen und zu hoffen, dass ich auf meinem Weg möglichst nur Leuten, die mir freundlich gesinnt waren begegnete.
Leise seufzend begann ich durch die ausgestorbenen Gassen zu joggen. Es musste kurz nach drei Uhr sein, andernfalls würden immer noch einige Menschen unterwegs sein. Umso besser für mich, vorausgesetzt es wunderte sich niemand über ein Mädchen, das um diese Zeit und ohne warme Kleidung durch die Stadt lief. Sonderlich unauffällig war das nicht gerade, aber da ich dunkle Sachen trug und die größeren Straßen mied, war mir das im Moment herzlich egal.
Abgesehen davon war mir so nicht mehr kalt und ich kam deutlich schneller voran. Einfach immer das Positive sehen, dann konnte eigentlich nichts schief gehen.
Wenn man mal die Männer, die mich suchten, außer Acht ließ.
Und die Tatsache, dass ich einen schlechten Orientierungssinn hatte.
Dass ich nicht wusste, wovon ich die nächsten Tage leben sollte, war auch nicht unbedeutend.
Ja, wenn man diese Dinge nicht beachtete, konnte wirklich nichts schief gehen.
In der Hoffnung, dass ich nicht doch im Kreis lief, verfiel ich in ein Tempo, dass ich noch ein bis zwei Stunden durchhalten würde. Somit sollte ich bis Sonnenaufgang noch einige Kilometer schaffen und mit ein bisschen Glück die Stadt langsam verlassen. Was ich dann tun würde, stand in den Sternen, aber irgendetwas würde mir schon einfallen. Vielleicht würde ich einfach unter einem Baum schlafen und beten, dass mich dort niemand fand. Immerhin würde ich dank der steigenden Temperaturen ab Sonnenaufgang nicht erfrieren, das war schon mal etwas.
Und dann? Dann würde ich wohl weiterlaufen, nach ein paar essbaren Pflanzen suchen und mich schlussendlich irgendwo verstecken, bis die Nacht hereinbrach. Ich hielt es für klüger, öfter bei Dunkelheit als am Tag unterwegs zu sein.

Caeth-Die Rebellen || #Wattys2015Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt