78. Kapitel

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"Lola?"
"Mhm?" Ich schob die Gedanken, die mich gerade beschäftigten, zur Seite und konzentrierte mich wieder auf Damon.
"Du starrst schon seit zehn Minuten Löcher in deinen Teller", sagte er und sah mich besorgt an. "Ist alles in Ordnung?"
"Oh. Ja, mir gehts gut, ich habe nur nachgedacht", erwiderte ich. Auf seinen skeptischen Blick hin rang ich mir ein Lächeln ab und begann pflichtschuldig etwas zu essen.
"Lüg mich nicht an, Lola, irgendetwas ist doch. Du hast nicht einmal bemerkt, dass Zoey, Anne und Liz schon vor einer halben Stunde gegangen sind."
"Das ... ", ich verstummte. Er hatte Recht. Wenn er mich nicht darauf aufmerksam gemacht hätte, hätte ich vermutlich erst in einer Stunde registriert, dass wir beinahe allein in dem riesigen Speisesaal waren. So ging das schon seit Tagen. Ständig war ich so tief in Gedanken versunken, dass ich meine Umgebung völlig ausblendete. Jedes Mal versuchte ich aufs Neue, es zu verhindern. Mit mäßigem Erfolg, wie es schien.
Seit ich den anderen Ratsmitgliedern endlich klar machen konnte, dass Supermutanten-Babys uns in keinster Weise weiter bringen würden, war knapp ein Monat vergangen. Vier Wochen voller Planungen, was als nächstes zu tun sei, wie das klügste Vorgehen aussah, wer was machen würde, welche Eventualitäten bedacht werden mussten, wie die zeitliche Aufteilung wirklich sinnvoll wäre, welche Waffen eingesetzt werden sollten und konnten, ob man irgendwie die Zivilbevölkerung aus der ganzen Sache raushalten konnte, inwiefern die Kommunikation zwischen den verschiedenen Gruppen gewährleistet werden konnte und was eigentlich passieren würde, wenn der Plan erfolgreich verlief. Dazu kam noch das beinahe tägliche Training für bestimmte Situationen und um richtig auf übernatürliche Kräfte reagieren und in Damons und meinem Fall sie ausdauernder einsetzen zu können.
Und wofür das alles? Für einen einzigen Tag. Heute, um genau zu sein. In weniger als fünf Stunden würde die erste Gruppe aufbrechen und somit den Kampf um die endgültige Herrschaft in Caeth beginnen. Sollten wir versagen, würde alles beim Alten bleiben und ich bezweifelte, dass wir danach noch eine Chance bekommen würden. Heute oder nie, heute würde sich das Schicksal von uns allen entscheiden.
"Ich habe Angst", gab ich schließlich zu. Und eben diese Angst brachte mich dazu, über alles hundertmal nachzudenken, an jeder Stelle etwas zu finden, das schief gehen konnte.
Es gab drei Hauptgruppen und jede war irgendwie von den anderen abhängig. Gruppe eins hatte den, nicht unbedingt gefährlichsten, aber wichtigsten Job: sie würden das Hauptkommunikationszentrum des Landes hier in Philadelphia stürmen. Wenn alles gut ging, würden sie es schaffen, jegliche Kommunikationsmöglichkeiten der Regierung zum Militär zu unterbinden. Der Haken daran war nur, dass unsere dann ebenfalls eingeschränkt wären. Wenn wir die Möglichkeit, über Funkgeräte über kurze Entfernungen miteinander zu sprechen, offen ließen, konnte das Militär dieses Mittel ebenfalls nutzen. Welche Variante nun genau gewählt werden würde, würde eine Überraschung werden. Einige Wissenschaftler wollten versuchen, nur bestimmte Frequenzen übertragen zu lassen, aber das würde auch nicht sonderlich lange unentdeckt bleiben.
Die zweite Gruppe, von Damon angeführt, begab sich in die größte Gefahr. Wenn wir auch nur den Hauch einer Chance haben wollten, mussten wir in der Lage sein, Luftangriffe abzuwehren beziehungsweise selbst auszuführen. Unglücklicherweise hatten wir zwar durchaus einige Männer und Frauen, die die Kampfjets und -hubschrauber fliegen konnten, doch keine dieser Maschinen in unserem Besitz. Also würde diese Gruppe sich in das Militärlager am Rande New Yorks schleichen, mehrere Flugzeuge stehlen und ganz nebenbei die restlichen flugunfähig machen. Ich bezweifelte stark, dass das tatsächlich gelingen würde, doch mit ein wenig Glück würde der Ausfall der Kommunikationsgeräte lang genug für Ablenkung sorgen.
Sobald sich die Maschinen samt ihrer Piloten in die Luft erhoben hätten, würden die restlichen Mitglieder der zweiten Gruppe sich aufteilen und entweder die anderen beiden unterstützen oder, falls das nicht möglich war, auf eigene Faust handeln.
Blieb also nur noch Gruppe drei, in der ich war. Sie würde zu Beginn gemeinsam aufbrechen, sich jedoch später in weitere kleinere Gruppen aufteilen. Ziel war es, verschiedene wichtige Gebäude in New York zu besetzen - allen voran dem Tower, in dem heute eine Tagung zu einem neuen Gesetzesbeschluss stattfand. Es würden also alle 50 Regierungsmitglieder anwesend sein und, laut Plan, gefangen genommen, notfalls getötet werden. Ich war mir nicht sicher, ob ich froh sein sollte, in diesem Grüppchen zu sein, oder nicht. Einerseits war der Tower das wahrscheinlich am besten gesicherte und bewachte Gebäude New Yorks, doch andererseits stand ich wenigstens unter dem Kommando von Colin. In einer anderen Gruppe hätte ich am Ende selbst die Führung übernehmen müssen und einer solchen Aufgabe fühlte ich mich im Moment definitiv nicht gewachsen. Ganz im Gegensatz zu Zoey, die mit einigen Soldaten den 'geheimen' Überwachungsraum der Stadt übernehmen würde. Er befand sich in einem unscheinbaren Wohnhaus und würde höchstens von einem dutzend Männern bewacht werden.
"Lola?", Damon berührte mich leicht am Arm und holte mich wieder aus meinen Gedanken. "Es ist völlig normal, dass du Angst hast, das haben wir alle. Aber wenn du lieber hier bleiben willst, rede ich nochmal mit Colin."
"Also soll ich mich verstecken, während ihr anderen alle euer Leben riskiert?", erwiderte ich mit einem bitteren Lächeln. "Danke, aber nein. Ich kämpfe mit, mal ganz davon abgesehen, dass ich vor Sorgen umkommen würde, wenn ich zurückbleiben und abwarten würde."
"Auch wieder wahr. Wovor genau fürchtest du dich? Und jetzt sag nicht wieder, dass das unwichtig ist. Vielleicht kann ich dir ja einen Teil der Angst nehmen." Damon sah mich aufmerksam an. Im Gegensatz zu mir strahlte er eine solche Ruhe aus, dass ich für eine Sekunde wieder daran glaubte, dass alles gut werden würde. Wie gesagt - für eine Sekunde. Dann holte mich die Realität wieder ein, erinnerte mich daran, dass in einem Krieg nie alles gut werden konnte.
"Ich weiß es nicht. Alles, irgendwie. Ich fürchte mich davor, was passieren wird, egal ob wir siegen oder nicht. Ich meine, was wenn das, was wir tun, falsch ist? Was, wenn die Menschen es besser finden, die Kontrolle und Verantwortung abzugeben, anstatt selbst Entscheidungen zu treffen? Am Ende verfluchen sie uns dafür, das alte System abzuschaffen und ein neues aufzubauen. Oder wir verlieren und werden alle hingerichtet. Auch das fürchte ich, genauso wie die Möglichkeit, dass ich plötzlich von den anderen getrennt werde und völlig auf mich allein gestellt bin, ohne zu wissen, was ich machen soll oder die Schmerzen, wenn ich verletzt werde. Es gibt so viele Dinge, vor denen ich Angst habe", antwortete ich leise und starrte auf meine Hände, beobachtete, wie Damon sie in seine nahm. Es war ungewiss, ob ich morgen wieder mit ihm sprechen, seine Nähe und Berührungen genießen konnte.
"Und doch kannst du das meiste davon nicht beeinflussen. Es liegt nicht in deiner Hand, was nach dem heutigen Tag passiert, ob die Menschen unsere Taten gutheißen oder nicht. Wenn du von den anderen getrennt werden solltest, was unwahrscheinlich ist, suchst du irgendeine andere Gruppe und schließt dich dieser an. Was mögliche Schmerzen angehen, kann ich dich leider nicht beruhigen, außer vielleicht damit, dass man ab einem gewissen Punkt keine neuen mehr spürt. Oder natürlich du wirst ohnmächtig und verpasst alles weitere."
"Sehr hilfreich", murmelte ich, spürte jedoch gleichzeitig, wie ich lächeln musste. Auch wenn er mir meine Ängste nicht nehmen konnte, war es wundervoll, dass er es überhaupt versuchte. "Was fürchtest du? Ich habe das Gefühl, dass du überhaupt keine Angst hast, nicht mal vor dem Tod."
Meine Frage ließ Damon wieder ernst werden, wischte das Lächeln aus seinem Gesicht. "Doch, Prinzessin, ob du's glaubst oder nicht, ich habe auch Angst. Zugegebenermaßen nicht vor dem Tod selbst, aber davor, dass er mich am Leben lässt und mir dafür Menschen nimmt, die ich liebe."
Nach diesem Satz schwiegen wir beide, sahen uns einfach nur an. Er hatte so etwas Endgültiges, was wohl jeden zum Verstummen bringen würde. Hatte ich mich zuvor noch um mich selbst gesorgt, begriff ich nun, wie wahr diese Aussage war. Wenn ich selbst sterben würde, würde ich aller Wahrscheinlichkeit nach verschwunden sein, keine Chance haben, zu bedauern, was ich verpassen würde. Doch es würden auch Menschen sterben, die kannte, mit denen ich befreundet war, die ich liebte.
"Versprich mir, dass du auf dich aufpasst", bat Damon plötzlich.
Ich lächelte, versuchte die Tränen, die plötzlich in mir aufstiegen, zurückzuhalten. "Wird das jetzt ein kitschiger Abschied?"
"So in etwa, ja", erwiderte er schmunzelnd. "Also - versprichst, oder nein, schwörst du mir, vorsichtig zu sein?"
"Natürlich, wenn du es auch tust", gab ich zurück. "Und komm nicht auf die blödsinnige Idee, den Helden spielen zu müssen, okay?"
"Ich schwöre, alles in meiner Macht stehende zu tun, um am Leben zu bleiben." Er hob feierlich eine Hand, ehe er aufstand und mich fest an sich zog. "So kitschig, dass du weinst sollte es eigentlich nicht werden."
"Ich kann nichts dafür, du hast angefangen", murmelte ich an seiner Schulter und unterdrückte ein Schluchzen. Noch waren wir beide gesund und munter, ich sollte mir die Tränen wirklich für später aufheben.

Ich weiß, das Kapitel war ziemlich kurz, aber ich wollte hier nicht schon mit dem Rest anfangen :).

Caeth-Die Rebellen || #Wattys2015Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt