29.

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Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, in der ich im Heim bleiben muss. Es sind nur drei Tage, aber drei Tage sind wirklich lang, wenn man den ganzen Tag nur gelangweilt im Bett liegt und nicht aufstehen kann und darf.

Endlich darf ich wieder aufstehen. Ich greife nach meinen Krücken und humple mit meinen Schulsachen die Treppe runter.

Ich habe keinen Hunger und der Appetit vergeht mir beim Anblick dieses Essens sowieso. Johanna wartet schon auf mich. Gemeinsam machen wir uns auf den Weg zur Schule.

Wegen den Krücken bin ich ziemlich langsam. Ich wusste nicht, dass das bei langen Strecken so anstrengend und schmerzhaft ist.

Zu spät betreten wir das Schulgebäude und verschwinden jeweils in unseren Klassenräumen. Ohne zu klopfen öffne ich mühsam die Tür und humpel in den Raum.

Alle Blicke liegen auf mir. Ich ignoriere die anderen und humpel zu meinem Platz.

'Warum kommst du zu spät, Mia?'

Ich beachte Frau Pfau gar nicht. Wann lernt sie denn endlich, dass ich anders bin, als alle anderen hier? Ich bin nicht die, die vor jedem Respekt hat. Meinen Respekt muss man sich erarbeiten.

Ich kassiere noch einen bösen Blick von ihr, was mich nicht wirklich interessiert, dann setzt sie ihren Unterricht fort.

Gedankenverloren starre ich aus dem Fenster und spiele mit einem Stift rum. Das wird wohl mal wieder ein langer Schultag.

Draußen fängt es an zu regnen. Alles ist in ein kaltes grau getaucht. Für einen Moment schließe ich die Augen, dann atme ich tief ein und aus.

Meine Nebensitzerin beugt sich zu mir.

'Ist alles ok bei dir?'

Ich schaue sie verärgert an. Was will sie? Warum denkt sie, dass ich ihr irgendetwas erzähle.

Eingeschüchtert dreht sie sich wieder nach vorne. Ich schaue erneut nach draußen und meine Gedanken schweifen ab.

Die graue Regenwand weckt Erinnerungen. Bevor ich mich ablenken kann, ist es zu spät.

Ich bin gefangen in den Bildern früherer Zeiten. Es ist jetzt ungefähr zwei Jahre her. Ich sehe mich selbst, wie ich mit einem blauen Auge und mehreren deutlich sichtbaren Schürfwunden im Gesicht über den leeren Pausenhof eile.

Ich habe bloß eine dünne Jacke und friere deshalb. Die Kaputze hab ich mir tief ins Gesicht gezogen.

Ich musste gerade nachsitzen, weil ich schon wieder zu spät gekommen bin. Ich muss morgens immer warten, bis es eine Möglichkeit gibt, mich an meinen Eltern vorbei zu schleichen.

So schnell wie möglich eile ich durch die Straßen. Ich bin längst bis auf die Haut durchnässt. Wenn ich zu spät nach Hause komme, gibt es großen Ärger.

Zu spät bin ich sowieso schon, aber noch länger weg zu bleiben würde das Ganze nur noch verschlimmern.

Ich habe Angst, große Angst. Eine Hand greift um meinen Arm. Erschrocken drehe ich mich um, aber als ich sehe, dass es Fabian ist, lasse ich mich in seine Arme fallen. Meine durchnässten Kleider interessieren ihn überhaupt nicht.

Er gibt mir die nötige Unterstützung, die ich sonst von so gut wie niemandem bekomme. Er ist einfach für mich da, ohne große Erklärungen zu verlangen.

Er weiß über alles Bescheid und beschützt mich so gut es geht. Ich versuche ihn von meinen Eltern fern zu halten, weshalb meine Eltern nichts von ihm wissen.

Ich löse mich von ihm, atme einmal tief durch und wische mir die Tränen aus dem Gesicht. Ich habe nicht einmal gemerkt, dass ich geweint habe.

'Danke'

Murmel ich und er nickt mir zu.

Ich drehe mich um und laufe so schnell ich kann nach Hause.

Wieso ich?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt