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Die nächsten beiden Wochen ziehen sich in die Länge, doch irgendwann ist es trotzdem soweit und der angekündigte Überraschungsausflug steht an.

Mit einem Rucksack auf dem Rücken drücke ich mich in den Bus. Die Klassen fahren leider getrennt, weshalb ich nicht neben Johanna sitzen kann.

Ich lasse mich irgendwo in der Mitte auf einen Sitz fallen, während sich der Rest der Klasse noch um die letzte Reihe prügelt.

Ich ziehe mir die Kaputze über den Kopf und lehne mich ans Fenster.

Die kurze Ansprache von Herr Roth bekomme ich nur am Rande mit. Er erzählt irgendwas davon, dass die Fahrt eineinhalb Stunden dauert. Das ist gut, dann kann ich ein bisschen schlafen.

Die Müdigkeit aufgrund meines Schlafmangels übermannt mich und ich falle in einen erstaunlich ruhigen Schlaf.

Das Gewackel des Buses stört mich dabei nicht wirklich und auch in den Haltepausen zwischendurch wache ich nicht auf.

Dementsprechend bekomme ich auch ziemlich wenig davon mit, wohin der Ausflug jetzt wirklich geht.

Als der Bus hält, werde ich von irgendeiner vorbeilaufenden Person geweckt. Schläfeig krame ich meine Sachen zusammen und stehe dann auf und steige aus.

Die Kaputze hängt mir ins Gesicht, doch ich mache mir nicht die Mühe, den Kopf zu heben. Alles was ich sehe ist der Boden und die Füße meiner Klassenkameraden.

Als diese sich in Bewegung setzen, folge ich ihnen. Johanna taucht neben mir auf.

'Wir gehen jetzt in irgendso ein Museum. Irgendwas mit Menschenrechten, Gericht und so...'

Sie seufzt. Vermutlich verdreht sie gerade ihre Augen.

Ich zucke mit den Schultern. Mir geht es ähnlich wie ihr. Das Thema interessiert mich nicht wirklich.

Wir kommen an eine Treppe und betreten dann den Eingangsbereich eines recht klein scheinenden Museums.

Als ich kurzzeitig den Blick hebe, kommt es mir ein wenig bekannt vor. Aber ich mache mir nicht viel daraus, schließlich sehen Museen doch irgendwie immer gleich aus.

Hätte ich gewusst, was später passieren würde, hätte ich mich wohl gleich wieder umgedreht und wäre so schnell wie möglich abgehauen.

Stattdessen aber folge ich den anderen und dem Museumsführer in den ersten Ausstellungsraum.

Ich höre kaum zu und halte mich im Hintergrund. Die Kaputze tief ins Gesicht gezogen, bleibe ich in meine Gedanken vertieft.

Irgendwann wird mir das zu langweilig. Ich schaue mir ein paar Ausstellungsstücke an.

Die meisten sind, wenn ich das richtig erkenne, irgendwelche schriftlichen Gerichtsbeschlüsse.

Wir gehen weiter in den nächsten Raum. Kinderrechte. Na jetzt wird es ja mal interessant.

Ich nehme nicht richtig wahr, was der Museumsführer erzählt, während ich mich im Raum umschaue.

'Vor einem Jahr hatten wir ein riesigen Skandal zun Thema Kindesmisshandlung in dieser Stadt. Ein Mädchen wurde scheinbar schon ihr ganzes Leben lang von ihren Eltern verprügelt. Es ist fragwürdig, wie das keiner mitbekommen konnte. Bis zu dem einen Tag, als ihre Eltern es übertrieben. Sie schlugen im Keller so lange auf sie ein, bis ihre Schädeldecke brach. Ein guter Freund des Mädchens rief den Rettungswagen. Es ist ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebt.'

Ich höre zwar die Worte, doch mein Gehirn verarbeitet sie nicht, denn mir ist ein Zeitungsartikel ins Auge gefallen.

Ich trete näher heran und beginne zu lesen. Schon nach den ersten Sätzen zieht sich mein Inneres zusammen. Ich betrachte die Bilder näher.

Es sind Bilder von mir. Als lächelndes, fröhliches Mädchen, dann schwer verletzt und kaum wieder zu erkennen.

'Wir haben auch einen Zeitungsartikel zu dem Thema. Er hängt dort hinten. Der, den eure Klassenkameradin gerade betrachtet.'

Auch diese Worte werden nicht von meinem Gehirn verarbeitet. Meine Gedanken kreisen rasend schnell um das, was ich vor mir sehe. Ich versuche, zu realisieren, was das alles ist.

Langsam verstehe ich auch die Worte des Museumsführers. Das bedeutet, ich bin in meiner alten Heimatstadt und dieser Artikel erzählt meine Geschichte. Ich zittere am ganzen Körper. Schritt für Schritt weiche ich von dem Artikel zurück.

Meine Beine können mich nicht mehr halten, als das Bild vor mir verschwimmt und die ganze Welt zusammenbricht.

Ich falle auf den Boden, die Tränen rinnen über meine Wangen und laute Schreie brechen aus mir heraus. Meine zitternden Hände umklammern verkrampft meinen Kopf.

Ich spüre eine Hand auf meinem Rücken. Panisch zucke ich zurück. Meine Schreie schwillen an. Ich nehme kaum wahr, wie die Empfangsdame erschrocken hereinstürmt.

In meinen Gedanken steht schon mein Vater über mir und holt mit einer Eisenstange aus, um erneut auf mich einzuschlagen.

Er ist dabei, den einen Schlag durchzuführen, der mich fast mein Leben gekostet hat. Der eine Schlag, der mich in die Bewusstlosigkeit gebracht und somit wenigstens kurzzeitig von den Schmerzen erlöst hat. Der eine Schlag, bei dem meine Schädeldecke brach.

Wieso ich?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt