Öffne deine Augen

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Ich sitze bereits seit über vier Stunden vor dieser Tür und verliere langsam die Nerven. Diese scheiss Zeit vergeht einfach nicht und ich kann nicht sagen, wie lange ich das noch aushalte.
Anne hat mir für einige Zeit Gesellschaft geleistet. Jetzt jedoch ist sie nach Hause gefahren. Sie hat den Arzt darum gebeten, sie anzurufen, sobald die OP vorbei ist oder es Komplikationen gibt.

Also sitze ich nun hier, alleine, und warte. Warten auf ein Zeichen, einen Arzt der aus dieser Türe kommt und mir lächelnd zunickt und mich zu ihm lässt. Ich werde hier noch wahnsinnig.

Dieses Gefühl, nicht zu wissen, was in zwei Stunden passieren wird, raubt mir meinen Atem. Ob alles gut läuft, ob Harry mich wieder erkennt. Ob er überhaupt aufwacht. Nein, ich darf nicht so negativ denken!
Ich liebe ihn so sehr und ich danke Gott dafür, dass er ihn mir geschenkt hat. Seit ich Harry im Wald gefunden habe, glaube ich an Schicksal. Das Leben meint es manchmal also doch gut mit uns.

Ein Klingeln reisst mich aus meinen Gedanken. Ich nehme mein Handy aus meiner Hosentasche und betrachte den Display: Mom.
"Hallo?", antworte ich.
"Gott Sharon. Wieso hebst du denn nicht das Telefon ab, wenn man dich anruft?"
"Mom", seufze ich. "Ich habe den Stecker gezogen. Ich wollte meine Ruhe."
"Wieso denn das? Geht es dir nicht gut?"
"Doch doch, aber ich bin nun mal müde und so. Keine Angst, mir gehts gut", lüge ich.
"Toll. Dein Dad und ich vermissen dich. Wir sind jetzt in New York an einer Konferenz. New York ist toll, du würdest es lieben."
Ehm naja, nur nehmen mich meine Eltern nie irgendwo mit. Auf diese Idee sind sie noch nie gekommen.
"Cool", murmle ich.
Hinter mir ertönen die Stimmen zweier Ärzte, die wegen eines Notfalls durch den Gang rennen.

"Sharon sag mal, wo bist du denn?"
"Zuhause, wieso?"
"Da waren Stimmen."
"Ja Mom, ich schaue ja auch TV. Grüss mir Papa."
"Ok Liebes. Wir melden uns wieder. Bye."
Endlich! Ich liebe meine Eltern, keine Frage. Doch ihr mangelndes Interesse an mir und meinem Leben tut einfach nur noch weh. Eine andere Beschreibung dafür gibts gar nicht.
Im Moment jedoch ist mir das sowas von egal. Alles was jetzt zählt, ist Harry.

"Entschuldigen Sie Miss"
Ich hebe meinen Kopf und sehe in das Gesicht eines Arztes. Er lächelt mich an und geht vor mir in die Knie, um auf gleicher Augenhöhe mit mir zu sein.
"Ja?", erwieder ich nervös. Er lächelt, das muss doch etwas Gutes bedeuten, oder nicht?
"Ihr Freund wird immer noch operiert. Bis jetzt verlief alles gut. Dr. Maison hat darauf bestanden, dass ich Ihnen Bescheid sage. "
In mir breitet sich ein Gefühl der Erleichterung aus. Wenigstens das. Innerlich danke ich Dr. Maison, weil er an mich gedacht hat.
"Vielen Dank", antworte ich schüchtern.
Der Arzt nickt und erhebt sich wieder, vorauf er den Flur durch die Türe wieder verlässt.
Mein Blick fällt auf die Uhr; Ich sitze bereits über fünf Stunden da. Das heisst, ich muss eingeschlafen sein, bevor der Arzt mich geweckt hat.
Ich versuche, aufzustehen. Meine Beine sind eingeschlafen und schon fast taub von dem ganzen Herumsitzen. Ich stütze mich an der Wand ab und entscheide, mir in der Cafeteria einen Kaffee zu holen.
Einerseits bin ich danach wieder wach und noch dazu habe ich heute noch nichts zu mir genommen.

In der Cafeteria angekommen, stelle ich mich in die Schlange, um den Automaten zu erreichen. Ich habe meinen Blick auf den Boden gerichtet, da ich heute unter keinen Umständen in diesem Zustand jemandem unter die Augen treten möchte.
Plötzlich werde ich von der Seite angerempelt und jemand schüttet sein Wasser über meinen Pullover. Ich seufze und sehe hoch. Vor mir steht ein junger Mann in meinem Alter. Er hat blondes Haar und blaue Augen, ausserdem trägt er ein Lippenpiercing.
"Oh shit das tut mir leid", sagt er, während er sich verzweifelt ins Haar greift. Er nimmt eine Serviette vom Tisch nebenan und reicht sie mir. "Tut mir echt so leid, ich bin so ein Tollpatsch."
Eigentlich ist er ganz sympathisch, und da es nur Wasser ist bin ich auch nicht sauer.
"Ist schon ok, ist ja nur Wasser."
"Zum Glück! Ich bin übrigens Jasper." Er reicht mir die Hand und lächelt freundlich.
"Sharon", sage ich, während ich seine Geste erwiedere.
"Sharon. Darf ich dich wenigstens auf einen Kaffee einladen, um diese Sache wiedergut zu machen?'
Soll ich wirklich mit diesem Typ etwas trinken? Was wenn in dieser Zeit Harry auf mich wartet.

Trotzdem nicke ich und folge Jasper zu einem kleinen Tisch. Wir setzen uns hin und ich beginne, an meinem Kaffee zu schlürfen. Einwenig Ablenkung kann ich gut gebrauchen.
"Was hat dich ins Krankenhaus verschlagen, kleine Sharon?"
"Mein Freund wird gerade seit über fünf Stunden operiert."
"Oh." In Jasper's Ausdruck spiegelt sich Mitleid und Sorge. "Wo wird er denn operiert?"
"Gehirntumor", seufze ich. Mir fällt es immernoch schwer, darüber zu sprechen.
"Wow, das tut mir aber leid. Wie alt ist er denn?"
"21."
"Toll. Er wird das schon schaffen kleine Sharon, da bin ich mir sicher." Er versucht mich zumunternd anzulächeln.
Ich nicke ihm dankend zu und widme mich wieder meinem Kaffee. Harry muss es einfach schaffen.
"Und wieso bist du hier?", frage ich ihn. Themawechsel!
"Meine kleine Schwester hat sich ihr Bein gebrochen und wird ebenfalls gerade operiert."
"Wie ist das passiert?"
"Reitunfall." Ich nicke.

Ein Blick auf die Uhr lässt mich aufspringen.
"Ich sollte gehen. Ich will da sein, wenn er aufwacht."
"Das kann ich verstehen. Viel Glück euch zwei. War mir eine Freude, dich kennen zu lernen." Ich lächle Jasper zu und verlasse die Cafeteria.
Mit schnellen Schritten gehe ich auf die grosse Tür zu, aus der gerade der gleiche Arzt kommt, der mir vorhin die Nachricht überbracht hat.

Ich renne auf ihn zu, da er ziemlich bleich im Gesicht ist. "Was ist passiert?", frage ich ihn.
Er bleibt vor mir stehen und sieht mich geschockt an.
"Tut mir leid Miss, ich muss Blut aus dem Vorrat holen, ihr Freund verliert momentan sehr viel davon."

Ich kann spüren, wie mir jegliche Farbe aus dem Gesicht weicht.
Was hat er gerade gesagt? Harry hat viel Blut verloren?
Nein das kann nicht sein. Er hat doch gesagt, dass wieder gut wird. Harry nein, verlass mich nicht. Gott nein....
Ich merke, wie der Flur beginnt, sich zu drehen. Meine Atmung wird schwerer und ich bekomme keine Luft mehr, während meine Beine anfangen zu zittern und danach ganz aufgeben. Ich stürze zu Boden, bevor alles schwarz wird.

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"Sharon. Wach auf Liebes."
Ich blinzle und versuche, mich aufzurichten. Was ist geschehen?
Vor mir sitzt Anne auf einem Stuhl und streichelt mir liebevoll über den Arm. Ich sehe sie einfach an, ohne etwas zu sagen. Sie sieht müde und erschöpft aus.
"Du bist ohnmächtig geworden, nachdem der Arzt dir erzählt hat, wie es um Harry steht."

Ruckartig setze ich mich auf und starre sie an. Anne versteht sofort und erhebt sich ebenfalls. Erst jetzt realisiere ich, dass ich auf einem Krankenbett liege. "Wie geht es ihm?', flüstere ich.
"Die Ärzte operieren ihn momentan noch. Mehr kann ich dir nicht sagen, es tut mir leid Liebes."
Automatisch füllen sich meine Augen mit Wasser und die Tränen beginnen, einfach so zu laufen.
Anne erhebt sich und drückt mich fest an ihre Brust, während sie mir über den Rücken streicht.
"Wir müssen jetzt einfach beten und hoffen Sharon, mehr bleibt uns nicht übrig."

Ein Räuspern lässt uns auseinander schrecken. "Mrs Styles?"
Anne und ich wenden unsere Köpfe in die Richtung der Stimme. Dr Maison.

Hey AngelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt