Die Reise

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Nachdem wir die Nacht bei Harry verbracht haben, sind wir früh am Morgen bereits mit vollbepacktem Wagen losgefahren.
Und nun sitzen wir hier in Harry's Wagen. Vor uns liegt eine lange Reise, Destination: unbekannt.

"Warst du schonmal im Ausland?", frage ich Harry.
"Ja, einmal in Italien. Du?"
"Nein. Meine Eltern waren schon überall, doch ich habe über die Jahre nichts anderes als Totnes gesehen." Ich muss leer schlucken beim Gedanken an meine Eltern. Ich habe sie gerade zurückgelassen ohne zu wissen, wann und ob überhaupt ich wiederkommen werde. Aber sie haben es nicht anders verdient, sie haben mich einfach zu sehr verletzt.

Ich sehe Harry an während er fährt und sich auf die Strasse konzentriert. Seine Gesichtszüge haben mich schon immer fasziniert, so weich und perfekt.
"Gefällt dir etwas nicht an mir?", neckt er mich.
"Du solltest dir mal die Haare schneiden lassen", gebe ich selbstbewusst von mir. Harry wendet seinen Kopf in meine Richtung und sieht mich fragend an. "Echt jetzt?" "Ja! Ich denke, dir würden kurze Haare besser stehen. Dein Gesicht würde mehr zur Geltung kommen und du würdest reifer und erwachsener aussehen."
"Wie du willst", redet er sich ein. "In der nächsten Stadt werde ich sie mir schneiden lassen."
Oh, ich glaube er hat das etwas falsch verstanden. "Nein Nein", versichere ich ihm, "Du musst doch nicht meinetwegen deine Haare abschneiden. Das ist ganz allein deine Entscheidung."
"Schon gut Kleines, du hast wirklich recht! Es wäre echt mal nötig!" Ich lächle ihn zufrieden an und schaue wieder nach vorne auf die Strasse.

Langsam kann ich meine Nervosität spüren, die sich langsam in mir breit macht. Da ich noch nie so richtig in den Ferien war, ist dies für mich tatsächlich eine Premiere.
Mit Harry durch die Welt zu reisen - nur schon die Vorstellung davon löst in mir unbeschreibliche Gefühle aus. Wow, dass ich das erleben darf, mit dem Mann meiner Träume an meiner Seite.

Ganz in meinen Gedanken vertieft döse ich kurz ein, was aber nur einige Minuten andauert, da ich durch lautes Hupen aufschrecke. Ich sehe mich um und sehe rund um mich herum duzende von Autos.
"Wir stehen im Stau", informiert Harry mich.
"Achso, ich dachte schon es sei irgendwas passiert."
"Alles gut." Er lächelt mich an und mustert mich. "Hast du Hunger?"
"Ja, ziemlich", gebe ich zu. "Aber ich kann warten."
"In 3km kann ich rausfahren, da gibts einen Mc Donalds."
Ich nicke und lehne mich wieder zurück in den Sitz. Meine Beine lege ich vorne auf die Ablage.

Nach 20min erscheint zu unserer Rechten endlich die ersehnte Ausfahrt. Harry lenkt den Wagen in Richtung der Tankstelle und parkiert ihn auf einem der leer stehenden Parkplätze.
"Na los, lass uns was essen", ermutigt Harry mich. Ich löse den Gurt und steige vorsichtig aus dem Wagen. Wir betreten den Mc Donalds und gehen direkt auf die Theke zu.

Mir bleibt der Atem kurz weg, als ich aus dem hinteren Fenster des Restaurants sehe. Ich blicke auf das weite, wunderbare Meer.
"Das Meer?", frage ich Harry mit grossen Augen. Dieser grinst und nickt. "Ja, wir werden mit der Fähre weiter reisen!"
"Oh mein Gott, echt jetzt?", kreische ich, während ich Harry um den Hals falle. Die anderen Gäste betrachten uns schön mit einem zornigen Blick, doch das ist mir echt egal! Ich werde mit der Fähre reisen, und das, mit dem Mann meiner Träume. Nebst meiner Vorfreude breitet sich ebenfalls Nervosität in mir aus.
In meinem ganzen bisherigen Leben war ich noch nie ausserhalb von Grossbritanien, und nun wird mein grösster Traum, etwas anderes von der Welt zu sehen, endlich real.

"Was möchtest du nun essen?", fragt mich Harry und reisst mich somit aus meinen Gedanken.
Ich strahle ihn an und sage: "Mir egal, such du etwas aus." Kichernd vertiefe ich mich wieder in meinen Träumen.

Als kleines Mädchen in der Schule hat uns die Lehrerin mal gefragt, wohin wir im Sommer verreisen würden. Alle meine Klassenkameraden nannten die schönsten Destinationen. Italien, Miami, Griechenland, Thailand. Und ich? Ich antwortete nur: Ich werde meinen Sommer wieder einmal bei Oma verbringen, während meine Eltern verreisen.
Ich hatte eine tolle Lehrerin, die sich oft um mich sorgte und dafür war ich ihr dankbar. Wenigstens jemand.

Sie nahm mich eines Abends mit zu sich nach Hause, da Oma notfallmässig verreisen musste. Leider konnte niemand einspringen, weshalb sich Mrs Connels bereit erklärt hatte, mich für das kommende Wochenende bei sich aufzunehmen.
In meinem bisherigen Leben habe ich noch nie ein solch wunderschönes Wochenende verbracht. Ich durfte die zwei Nächte bei Molly, Mrs Connels Tochter, im Zimmer schlafen. Wir verstanden uns auf anhieb sehr gut und sie war für mich immer diejenige Freundin, die ich nie hatte.
Wir gingen am Samstag in den Zoo und am Sonntag durften Molly und ich uns einen Film im Kino anschauen.
Ich hatte immer gehofft, Molly und ich würden für immer Freundinnen bleiben....
Mrs Connels starb fünf Monate darauf bei der Geburt ihres Sohnes, Max. Dieser hat die Geburt überlebt, wurde jedoch, wie Molly, zur Adoption freigegeben, da ihr Vater sich nicht für sie interessierte.
Seit diesem Tag habe ich Molly nie wieder gesehen. Sie muss jetzt ebenfalls erwachsen sein, so wie ich.
Was wohl aus ihr und Max geworden ist? Ob die beiden noch Kontakt haben?

Von diesem Tag an habe ich mich von allen, die versuchten, sich mit mir anzufreunden, zurückgezogen. Die Angst, nochmals eine beste Freundin zu verlieren, war und ist noch heute viel zu gross.

Ich blinzle kurz und bemerke, dass Harry gerade seine Geldbörse zückt, um für uns zu bezahlen. Die Frau an der Kasse reicht uns unser Essen und wir setzten uns an einen freien Tisch in der Ecke.
So wie es aussieht, hat Harry für uns beide einen BigMac mit Pommes und Ice Tea bestellt. Hungrig beginne ich zu essen.
"Danke", sage ich, bevor ich Harry auf die Wange küsse.
"Wofür?" Er nimmt sich drei Pommes und schiebt sie sich in den Mund.
"Für das Essen und für alles, was noch kommen wird." Er drückt kurz meine Hand als Geste und widmet sich weiter seinem Essen.

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"Harry, wie lange denn noch?" Wir fahren nun seit unzähligen Stunden mit der Fähre über das Meer und ich kann es kaum erwarten, endlich Fuss auf neues Land zu setzen.
Da die Fahrt ziemlich lange dauert, hat Harry für uns ein Zimmer gemietet, in dem es ein Bett und eine Toilette hat. Harry ist der Meinung, dass ich mich ausruhen sollte.

Ich spüre, wie die Matratze sich bewegt und ein Arm um meine Tallie gelegt wird. "Geduld Kleines, Geduld", flüstert er mir ins Ohr. Sein Atem kitzelt meinen Hals und ich erschaudere.
Ihm scheint es zu gefallen, wie ich auf ihn reagiere.
"Amüsiert es dich?", necke ich ihn.
"Aber natürlich! Es ist toll, welche Wirkung ich auf dich habe."
Ich lächle und ziehe Harry's Körper näher an mich ran. Ich nehme seinen Geruch in mir auf und küsse ihn in die Halsbeuge. Harry zieht die Luft scharf ein.
"Nett zu sehen, dass auch ich eine Wirkung auf dich habe", grinse ich.

Harry dreht mich zu sich rum und streicht mir mit seinem Daumen über die Wangen. "Das wird unser persönliches Abenteuer."

"Nächster Halt: Frankreich", ertönt es im Lautsprecher.
Ich strahle Harry an. "Ich liebe Überraschungen!"

Hey AngelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt