Flucht

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Ich werde immer nervöser, während ich hier neben Gemma sitze. Harry und Anne sind noch immer im Badzimmer.
"Tut mir leid Gemma, ich kann nicht. Ich muss an die frische Luft." Sie sieht mich an und nickt verständnisvoll.
Ich springe auf, ziehe mir Mantel und Schuhe an und werfe einen letzten Blick in Richtung des Badezimmers. Nichts regt sich. Ich öffne die Haustür und gehe hinaus.

Da ich mich hier nicht auskenne, sollte ich nicht zu weit weglaufen. Ich laufe einen kleinen Weg entlang richtung Wald. Ich liebe den Wald. Er ist der einzige Ort, an dem ich zur Ruhe komme - ausser in Harry's Armen.
Ich muss die ganze Zeit an ihn denken. Ich renne gerade vor seinen Problemen weg. Ich sollte eigentlich für ihn da sein, doch ich renne einfach weg weil es mir zuviel wird. Harry kann auch nicht einfach davor wegrennen.
Ich bin gerade auf der Flucht vor der Angst.

Ich folge dem Pfad immer weiter, bis ich endlich den Wald erreicht habe. Die Luft ist schön frisch und die Vögel zwitschern herum. Allmählich beginne ich, mich zu beruhigen.
Ich erreiche einen grossen Baum, unter den ich mich hinsetzte und was ich nun vor mir sehe, verschlägt mir den Atem: Vor mir liegt ein wundervoller kleiner See. Um ihn herum ist es saftig grün. Das türkisfarbene Wasser spiegelt die Sonnenstraheln, die auf das Wasser scheinen.
Der Baum, an den ich meinen Rücken lehne, erinnert mich daran, als ich Harry das erste mal gesehen habe. Er sass ebenfalls, zwar unterkühlt, ängstlich und verloren, unter einem Baum. Der Gedanke lässt mich zurückschrecken.
Wieso bin ich weggerannt? Wieso nur? Ihm geht es nicht gut und ich habe nichts besseres zu tun als wegzurennen, weil ich mich fürchte?
Aber ja, ich fürchte mich. Nicht direkt vor seinem Tumor. Eher vor dem Gedanken, ihn zu verlieren.
Ich habe noch nie im Leben Liebe gespürt oder empfunden. Er ist in mein Leben geplatzt und hat mir endlich einen Sinn gegeben. Er hat mich so akzeptiert wie ich bin und mir das Gefühl gegeben, etwas wert zu sein.
Ich brauche ihn. Mehr als meine Eltern. Sie haben mich jahrelang alleine gelassen, nur um Geld zu verdienen.
Wofür? Um mir auf meinen Geburtstag ein Auto zu schenken anstelle einer Uhr? Hätte ich an dieser Stelle Liebe bekommen, wäre mir ein T-Shirt schon genug gewesen.
Doch meine Eltern sollten lernen, dass man Liebe nicht kaufen kann. Man könnte meinen, ich sei erwachsener als sie.
Während ich nachdenke, werden meine Augen immer schwerer und schwerer.

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Ich wache auf, als es bereits dunkel ist. Ich muss wohl eingeschlafen sein.
Du meine Güte, wie spät ist es? Ich nehme mein Handy hervor und blicke darauf. 21:15 Uhr. Na toll, und noch dazu keinen Empfang. Harry muss krank vor Sorge sein. Ich nehme es ihm auch nicht übel. Ich Idiot.
Ich spüre meine Finger bereits nicht mehr. Ich fühle mich gerade so, wie Harry sich gefühlt haben muss.
Alleine, verloren, unterkühlt.
Ich verzeihe mir das nie wieder. Wieso bin ich nur weggelaufen. Ich hätte auf ihre Terasse gehen können, aber nein, ich Idiot bin in den Wald gerannt. Noch dazu kenne ich mich hier so gut wie garnicht aus.

Ich stehe auf und sehe mich um. Vor mir liegt wie bis anhin der See, hinter mir steht der grosse Baum. Doch wo ist jetzt dieser verdammte Weg? Ich sehe ihn nicht. Langsam bekomme ich Angst. Ich will nach Hause. Ich spüre, wie mir die Tränen das Gesicht runterlaufen. Ich bin verloren.
"Harry", wimmere ich. "Harry bitte, ich brauche dich."
Soll ich jetzt einfach weiterlaufen? Nein besser nicht. Falls er mich suchen sollte, wäre der See ein guter Ort um auf ihn zu warten. Er wird mich finden.
Ich setze mich also wieder unter den Baum und weine vor mich hin. Er muss einfach kommen.

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Ich weiss nicht, wieviel Zeit bereits vergangen ist, doch es scheint als würde jemand meinen Namen rufen.
Ich will aufstehen, doch mein Körper gehorcht mir nicht. Ich bin dermassen unterkühlt.

"Sharon", höre ich seine Stimme. Du meine Güte, es ist seine Stimme. Halluziniere ich?
"Sharon wo bist du? Gott Gemma, ich verzeihe mir das nicht, wenn wir sie nicht finden." Gemma ist also auch dabei.
"Harry, wir finden sie!", versucht sie ihn zu beruhigen.
Ihre Stimmen sind nicht mehr weit entfernt. Ich will zurückrufen, doch mein Mund bewegt sich nicht.
Ich höre Schritte näher kommen.

"Du meine Güte, Sharon." Er hat mich gefunden. Er hat mich endlich gefunden. Gott sei Dank.
Harry kommt auf mich zugerannt und kniet sich vor mir hin. Er legt mir seine warmen Hände aufs Gesicht.
"Gemma sie ist hier", schreit er. "Gott Kleines du bist ja eiskalt. Was tust du denn für Sachen?"
Ich wollte ihm antworten, ihm sagen, dass ich mich hasse, doch leider kam nur ein leises Gemurmel heraus.
Gemma kommt angerannt und schreit auf, als sie mich sieht. Sie wird sich bestimmt die Schuld dafür geben, doch sie kann nichts dafür. Niemand kann etwas für meine Dummheit ausser mir.
Harry beginnt, mir seinen Schal, seine Mütze und eine Decke anzuziehen. Er streicht mir über die Wange.
"Sharon, ich wäre fast gestorben vor Sorge. Wieso hast du das gemacht? Gott, ich hatte solche Angst um dich."
Ich kuschelte mich als Zeichen meiner Dankbarkeit an ihn, während er mich hochhebt und mich auf die Wange küsst.
Harry trägt mich durch den ganzen Wald bis wir bei seinem Haus angekommen sind. Davor wartet Anne schon auf uns und wirkt erleichtert, als sie uns entdeckt.
"Sharon Liebes, was tust du auch für Sachen. Harry, bring sie ins Wohnzimmer auf die Couch!"
Harry nickt und geht mit mir ins Haus. Er legt mich im Wohnzimmer auf die Couch und setzt sich neben mich. Er nimmt meine Hand, küsst sie und streicht mir sanft übers Haar.

Nach einiger Zeit beginnt mein Körper wieder aufzutauen. Gemma und Anne sind bereits ins Bett gegangen, nachdem Harry ihnen versichert hat, auf mich aufzupassen.
Er sitzt immernoch neben mir und hält meine Hand. Ich schäme mich so sehr. Ich habe ihm solche Sorgen bereitet, obwohl er selbst schon genug Probleme hat. Er hat sein Gesicht in seine Hand gestützt. Die Augen hat er geschlossen.

"Harry", sage ich. Ich fahre ihm mit meiner Hand durchs Haar. Ruckartig hebt er den Kopf und sieht mich an.
"Wie fühlst du dich?"
"Es tut mir alles so leid Harry, ich hasse mich dafür, bitte verzeih mir. Ich kann verstehen, wenn du mich jetzt nichtmehr willst. Ich war so ein Idiot, ich hatte Angst als du deinen Anfall hattest. Ich habe Panik bekommen-"
"Sssssh", unterbricht er mich. Er wischt mir mit seinem Daumen eine Träne weg.
Ich lege die Decke zur Seite und klettere auf seinen Schoss. Meine Hände lege ich ihm auf die Brust.
"Verzeih mir Harry. Ich liebe dich so sehr."
"Sharon, beruhige dich bitte. Ich werde dich niemals verlassen. Tu das einfach nie wieder! Du hast mir einen Todesschrecken eingejagt. Ich hatte solche Angst um dich Kleines. Wenn ich daran denke, was dir hätte passieren können, wenn ich dich nicht gesucht hätte."
"Du hast mich gerettet Harry. Ich wusste, dass du kommst."
"Wie meinst du das?" Er sieht mich mit grossen Augen an.
"Ich habe es gespürt."
"Ich liebe dich Sharon."
"Ich liebe dich."
Ich sehe ihn an und lehne mich vor. Seine Lippen sind ganz nah und so küsse ich ihn.

Hey AngelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt