Verlass mich nicht

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"Dr Maison", spreche ich ihn an, während ich auf ihn zugehe.
Er sieht müde und erschöpft aus. Hoffentlich ist er hier, um uns gute Nachrichten zu überbringen.
Ich bleibe vor ihm stehen und sehe zu ihm hoch. Man kann mir meine Sorgen wahrscheinlich ansehen, aber das ist mir jetzt sowas von egal. Ich bin in der letzten Stunde tausend Tode gestorben und ich brauche jetzt Klarheit. Ich kann spüren, wie sich Anne neben mich stellt und ihren Blick ebenfalls auf Dr Maison richtet.

"Ich teile Ihnen mit, dass wir über dem Berg sind. Er hat zwar viel Blut verloren, jedoch ist sein Zustand stabil. Wir konnten den Tumor vollständig entfernen. Er ist ein Kämpfer und wir können stolz auf ihn sein."
Ich atme erleichtert aus und kann spüren, wie mir ein riesiger Brocken vom Herzen fällt. Endlich. Danke lieber Gott.
Ich habe mich entschieden, morgen in die Kirche zu gehen. Ich habe in den letzten Stunden viel Kraft gebraucht und oft zu ihm gesprochen und ich bin der festen Überzeugung, dass da etwas ist, dass mir beigestanden ist und mich unterstützt hat. Und dafür bin ich dankbar.

Ich drehe mich zu Anne um und lächle sie erleichtert an. Ihr ist die Erleichterung ebenfalls ins Gesicht geschrieben. Ich will mir nicht vorstellen, wie es sich für sie als Mutter angefühlt haben muss.
Anne öffnet ihre Arme und ich drücke mich dankend an ihre Brust. Sie ist so etwas wie eine zweite Mutter für mich und zu wissen, dass sie und Mom 'Schwestern' sind, macht mich sehr glücklich. Es wird langsam an der Zeit, Mom davon zu erzählen.

"Kann ich zu ihm?", frage ich Dr Maison und Anne, nachdem ich mich wieder aus ihrer Umarmung gelöst habe.
Dr Maison sieht Anne fragend an, die ihm lächelnd zu nickt. Nun erscheint auch auf seinem Gesicht ein leichtes Lächeln.
"Natürlich. Er liegt in einem Aufwachraum, aber da er dort alleine ist, können Sie gerne mitkommen." Ich nicke ihm dankend zu und folge ihm, nachdem ich Anne zulächle.

Ich folge Dr Maison in den Aufzug und stelle mich neben ihn. Er drückt den Knopf und die Türen schliessen sich.
"Wie ernst ist die Lage?", frage ich ihn vorsichtig.
"Die Tatsache, dass er ziemlich viel Blut verloren hat, ist nicht sehr gut. Jedoch bin ich optimistisch und denke, dass er sich schnell wieder erholen wird. Wir konnten den Tumor vollständig entfernen."
"Das ist gut, schätze ich."
"Ja das ist es in der Tat." Ich lächle ihn an und es entsteht eine Stille zwischen uns, die er jedoch wieder unterbricht.
"Er hat, bevor er in die Narkose gefallen ist, einige Male ihren Namen gesagt, Miss."
Ich erstarre und wende meinen Blick zur Seite. Er hat was? Meinen Namen?
"Ganz recht, Sie haben mich richtig verstanden. Er hat Ihren Namen gesagt. Während der OP habe ich dann, als seine Situation kritisch wurde, zu ihm gesprochen, indem ich Ihren Namen erwähnt habe. Ich habe ihm gesagt, dass sie auf ihn warten und er jetzt kämpfen muss. Anscheinend hat es geklappt."
Ich kann spüren, wie in mir die Tränen aufsteigen und meine Lippen beginnen, zu zittern. Ich wende meinen Blick auf mein Handgelenk und muss schmunzeln, als ich das Tattoo erblicke. Es hat ihn beschützt.

Wir verlassen den Aufzug und gehen einen Gang entlang, bevor wir durch eine Türe, die einen Code benötigt, hindurch gehen.
Dr Maison nickt einer Krankenschwester zu, die an einem Computer sitzt und etwas kontrolliert. Es hört sich an, als würde sie die Atmung von jemandem beobachten.
Er öffnet eine Tür und gewährt mir den Einlass. Ich sehe mich um und entdecke ein Bett, welches links an der Wand steht. Und dann sehe ich ihn:
Er liegt in seinem Bett, ganz friedlich, und döst vor sich hin. Sein Kopf ist in einem weissen Verband eingewickelt und sein Körper ist an Schläuchen angesteckt. Mir läuft ein Schauer über den Rücken, als ich ihn so sehe.
Der eigentlich so starke und sorgenlose Harry liegt hier so hilflos und schwach in diesem Krankenbett und hat nur so knapp überlebt. Ich spüre, wie mein Körper sich nach seiner Wärme sehnt und ich ihn brauche.

Ich gehe auf das Bett zu und setze mich hin. Dr Maison verlässt mit einem Nicken das Zimmer und lässt uns alleine.
Ich nehme Harry's Hand und drücke sie sanft, nur um seine Nähe zu spüren.
"Du hast es geschafft", flüstere ich ihm zu. Ich weiss nicht, ob er mich hören kann, doch ich glaube fest daran.
Sein regelmässiger Atem und der Ton der Beatmungsmaschine erfüllen den Raum.
Ich schiebe mir die Schuhe von den Füssen und lege mich neben ihn. Zuerst habe ich Angst, etwas könnte passieren, wenn ich ihm zu nahe komme, doch die Schläuche liegen auf der anderen Seite.
Ich kuschle mich an seinen warmen Körper und schlinge die Arme um seinen Bauch. Mein Gesicht vergrabe ich in seiner Halsbeuge, wo ich ihn zärtlich küsse.
"Du darfst mich niemals verlassen! Du bist nun ein Teil meines Lebens und ich liebe dich so sehr, dass ohne dich zu leben eine Qual wäre."
Ich lege die eine Hand in seine, während die andere immer noch um seinen Oberkörper gelegt ist. Ich könnte für immer so liegen bleiben.

"Ich würde dich niemals verlassen", höre ich eine raue Stimme. Ich schrecke hoch und blicke in zwei wunderschöne smaragdgrüne Augen. Er ist aufgewacht.
Ein leichtes Lächeln bildet sich auf seinem Gesicht, als er mich betrachtet. Ich lächle und beginne, vor Freude zu weinen. Er ist endlich wach und er kann sich noch an mich erinnern. Endlich habe ich ihn wieder!
"Ich liebe dich so sehr", schluchze ich vor mich hin.
Harry hebt langsam eine Hand und legt sie mir an die Wange, während er mir mit seinem Daumen über die Haut streichelt.
"Nicht weinen, Kleines", flüstert er. Er scheint sehr müde von der OP zu sein, doch im Grossen und Ganzen macht er einen guten Eindruck auf mich. "Ich liebe dich."

Nachdem ich diese drei Worte aus seinem Mund gehört habe, werfe ich mich ihm um den Hals und küsse ihn.
Ich bin so dankbar, ist sein Tumor endlich vollständig entfernt und es besteht eine Chance auf ein gesundes Leben.
"Wie lange war ich im OP?"
"Fast sieben Stunden. Du hast sehr viel Blut verloren und für einen Moment sah es sehr kritisch aus. Gott ich hatte solche Angst um dich."
"Jetzt bin ich ja hier. Und was hast du so lange gemacht?"
"Gewartet." Die Erinnerungen kommen hoch, als ich umgekippt und in Panik zerfallen bin.
Harry sieht mich mit einem Blick an, in dem ich Sorge und gleichzeitig soviel Dankbarkeit sehen kann. Endlich habe ich meinen Engel wieder zurück.

"Ich sollte deine Mutter rufen, sie wartet draussen." Als ich mich erheben will, um Anne zu rufen, hält er mich am Handgelenk zurück und zieht mich wieder in seine Arme. Er drückt mir einen Kuss auf die Stirn und flüstert:
"Ich habe versprochen, dich nie wieder alleine zu lassen. Verlass mich nicht."
Und er hat Recht; es gibt keinen Ort auf dieser Welt, an dem ich lieber wäre als in seinen Armen.

Hey AngelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt