Zweifel

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"Guten Morgen", weckt mich eine raue Stimme am Ohr.
Ich kichere ins Kissen und verdecke mir das Gesicht mit meinen Händen.
"Dir auch einen guten Morgen", versucht es Harry mit einer überdimensional hohen Stimme. Sollte das gerade mich dargestellt haben?
Ich drehe mich zu ihm um und ziehe eine Augenbraue in die Höhe. "Dein ernst?" Darauf lacht Harry lauthals los. Wie ich es geniesse, seine wundervolle Stimme zu hören. Sein offenes und herzerwärmendes Lachen. Das Lachen, das mich am leben hält.
"Was willst du heute unternehmen?", fragt er mich.
"Keine Ahnung. Zeig mir etwas besonderes von Holmes Chapel."
"Willst du den Ort besuchen, an dem ich meinen ersten Kuss hatte?", grinst er mich an.
"Gerne." Mit dieser Antwort hätte er nicht gerechnet, das sehe ich seinen grossen Augen an.
"Echt jetzt?', fragt er unsicher.
"Klar"

Harry nickt und steht auf. Er läuft zu seiner Kommode hin und zieht sich eine Jogginghose und ein weisses T-Shirt an, durch das man seine Tattoos durchschimmern sieht. Ich geniesse den Anblick ziemlich, während ich mir auf die Lippe beisse.
Erst jetzt bemerke ich Harry's amüsierten Blick auf mir. Ich wende den Blick ruckartig von ihm und schaue auf den Boden.
"Lass uns frühstücken", ermutigt er mich. Ich nicke und folge ihm.

Während ich meine Schüssel Müsli esse, nimmt Harry gerade seine Medikamente.
"Ich musste noch nie in meinem Leben Medikamente schlucken", informiere ich ihn.
Harry grinst nur und widmet sich wieder der Packung. "Ist auch besser so." Ich nicke und esse weiter.
"Wann wollen wir los?', frage ich ihn.
"Sharon, warum stellst du so viele Fragen?"
"Einfach so. Ich bin nur gespannt, etwas aus deiner Kindheit zu sehen."
"Apropo Kindheit. Wann hast du das letzte mal mit deiner Mutter oder deiner Oma gesprochen?"
Ich halte inne mit Essen und sehe ihn an. Er hat recht, ich habe seit Tagen nichts von ihnen gehört.
Ohne dass ich es Harry erklären muss, hat er meinen Blick schon längst gedeutet. "Ruf sie an - jetzt."

Harry steht auf und läuft zur Kücheninsel rüber, um mir mein Handy zu holen. Im gleichen Moment ertönt ein Klingeln, ich muss wohl gerade eine Nachricht erhalten haben. "Kannst du bitte nachsehen, wer das ist?"
Harry nimmt mein Telefon und sieht es an. Seine Stirn runzelt sich und er sieht zu mir hoch.
"Alles in Ordnung?", frage ich ihn.
Er kommt auf mich zu und bleibt einen Meter vor mir stehen. "Keine Ahnung, kommt darauf an wer Jasper ist."

Jetzt fällt mir wieder ein, dass ich Harry noch garnicht von Jasper erzählt habe. Und so wie es aussieht, ist er nicht besonders darüber erfreut.
Ich nehme Harry das Handy aus der Hand und öffne die Nachricht.

Hi Sharon
Wie gehts dir? Alles wieder gut mit deinem Freund?
Hast dich seit unserem letzten Treffen im Krankenhaus nichtmehr gemeldet.
Lust, mal was zu unternehmen?
Jasper xx.

Ich hebe meinen Blick und sehe in zwei dunkle Augen. Harry ist sauer. Wieso bitteschön ist er denn sauer?

"Ich habe Jasper kennengelernt, währen ich mir einen Kaffee in der Cafeteria des Krankenhauses geholt habe. Du wurdest gerade operiert.
Nachdem du wieder den Anfall hattest und gerade untersucht wurdest, bin ich im Wartesaal zusammen gebrochen und Jasper war für mich da. Seine Schwester hat Leukämie und lebt sozusagen im Krankenhaus."

Während er seine Hände zu Fäusten ballt, atmet er tief ein. "Und warum hast du mir nichts von ihm erzählt?"
"Ich habs vergessen."
"Vergessen?" Er lacht bitter auf.
"Was ist denn los mit dir?", fahre ich ihn an.
Jetzt habe ich ihn nur noch mehr provoziert.
"Tut mir leid wenn es mich nicht gerade erfreut, dass meine Freundin während meiner Operation einen Typen kennenlernt und sich mit ihm amüsiert."
Ich sehe ihn geschockt an. Ist das gerade sein ernst? Er ist eifersüchtig?
"Wie bitte? Hast du sie nicht mehr alle? Ich war am Ende!" Ich spüre das Gefühl in mir hochkommen, als Harry damals operiert wurde. Diese Verzweiflung, diese Leere.
"So hört sich seine Nachricht aber nicht an." Sein Gesicht zeigt null Emotionen.
"Bist du völlig bescheuert? Er war für mich da!"
"Tut mir leid dass ich operiert wurde."

"Oh Harry", schreie ich. "Du hast keine Ahnung wie ich mich gefühlt habe, während du operiert wurdest. Ich fühlte mich alleine verdammt. Alleine!" Er erstarrt und sieht mich einfach an. Ich soll reden? Na gut.
"Ist dir eigentlich klar, wie ich mich fühle, wenn du nicht da bist? Alleine. Mein ganzes Leben war ich alleine, ich hatte keine Familie, die mich geliebt hat und sich um mich gekümmert hat, so wie bei dir. Ich will überhaupt kein Mitleid von dir oder irgend jemandem. Ich will einfach Verständnis." Jetzt beginnen, die Tränen meine Wangen runter zu laufen.
"Ich hatte dich in diesem Moment nicht und ich fühlte mich so verloren. Gott, weisst du was für eine scheiss Angst ich habe? Wenn ich dich verliere dann..-"
"Hör auf verdammte Scheisse!", brüllt er auf einmal. Ich erschrecke und halte meinen Atem an. Ich senke meinen Blick und schluchze auf.

Das ist es, wovor ich immer so Angst hatte. Jemanden so sehr zu lieben, dass ich nichtmehr ohne ihn leben kann.
Harry atmet laut, sodass ich es bis hier hin hören kann. Ich sehe ihn an, während er sich durch die Haare fährt.

"Du vertraust mir nicht", flüstere ich leise.
"Das ist nicht wahr. Ich vertraue dir blind", seufzt er.
Trotzdem hatte ich noch vor einigen Minuten einen anderen Eindruck. Er ist allen ernstes ausgerastet wegen Jasper. Noch dazu würde er mir zutrauen, Spass zu haben während er unter dem Messer liegt. Traurig.
"Sharon ich-"
"Nein", unterbreche ich ihn. Harry kommt einen Schritt auf mich zu und will nach meiner Hand greifen, doch ich ziehe sie weg und mache einen Schritt nach hinten. Seine Augen weiten sich geschockt und er sieht mich unsicher an.
"Verzeih mir", flüstert er.

Plötzlich tragen mich meine Beine aus dem Wohnzimmer, durch die Haustür nach draussen. Ich brauche nun etwas Zeit für mich.
Draussen setzte ich mich auf die Treppe vor der Türe und lege meinen Kopf auf meine Beine. Und ich weine.

Warum vertraut er mir nicht?
Ich habe Harry noch nie so wütend erlebt. Aber wie sagt man so schön, ein Mensch zeigt seine Seiten erst später.
Das war wohl eine seiner Seiten. Ich kann ja verstehen, dass er sauer war, dass ich ihm nichts von Jasper erzählt habe. Trotzdem sollte er nicht an meiner Treue zweifeln und gleich so ausrasten. Da habe ich mich wohl in ihm getäuscht.

Ich höre die Türe hinter mir und plötzlich sehe ich einen Schatten, der sich neben mich setzt.
Ich drehe meinen Kopf in seine Richtung und sehe ihn an. Vorsichtig hebt er seine Hand und legt sie auf meine, welche auf meinem Knie weilt.
"Ich liebe dich. Und es tut mir leid, wie ich mich verhalten habe. Ich habe überreagiert. Bitte verzeih mir."
Ich atme erleichtert auf und zwinge mir ein kleines Lächeln auf. "Ich liebe dich so sehr."
Jetzt lächelt auch Harry und zieht mich an seine Brust.
"Wenn du nicht bei mir bist, fühle ich mich so alleine und verloren", wiederhole ich meine Worte von vorhin.
"Hey Kleines, sieh mich an." Ich schaue zu ihm auf und sehe in seine Augen. "Du wirst nie mehr alleine sein. Ich werde dich nicht verlassen."
"Aber Harry, du lebst hier, ich in Totnes. Das liegt nicht gerade am Weg."
"Na und? Dann pendlen wir eben. Einmal hier, einmal in Totnes."
"Wirklich?" Ich sehe ihn mit grossen Augen an. Das würde er für unsere Beziehung tun? Nicht dass ich es nicht tun würde, doch die einzigen die meine Abwesenheit bemerken würden, wären meine Katzen.
"Natürlich. So schnell wirst du mich nicht los."
Ich hebe meinen Kopf leicht an, um ihn zu zeigen, dass er mich nun küssen darf. Und das tut er auch. Seine warmen Lippen auf meinen zu spüren löst eine Gänsehaut in mir aus.

"Komm. Ich zeige dir jetzt ein Stück Kindheit von mir." Wir erheben uns und während ich draussen auf ihn warte, holt er kurz unsere Jacken und den Autoschlüssel.
Wir setzten uns ins Auto und Harry startet den Motor. "Bereit?" - "Bereit."

Hey AngelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt