Anker

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Ich starre nur auf meine Hände und bemerke nicht, wo Harry überall durchfährt. Nach einiger Zeit erkenne ich im Rückspiegel die Umrisse von Totnes, also nehme ich an wir verlassen gerade die Stadt.
Das ist mir nur recht. Ich will einfach nur noch weg von hier.

Ausserhalb des Wagens ziehen die Schatten der Bäume vorbei, während ich mich zusammenreissen muss, nicht wieder laut loszuweinen. Ich hatte alles genau im Griff. Mein Leben, meine Familie - einfach alles. Und jetzt? Jetzt ist alles wieder kaputt. Mom hat ihre Schwester wieder und mir als Dank dafür genaustens erklärt, warum sie mich nicht leiden kann.

Plötzlich spüre ich eine Wärme auf meiner Hand, die sanft darüber streicht. Ich hebe meinen Kopf und sehe in ein besorgtes Gesicht.
"Ich bin ja da", tröstet er mich. Ich nicke und drücke seine Hand zart, um meinen Dank auszudrücken.
Ich brauche ihn jetzt, er ist mein Anker wenn ich alleine nicht mehr stehen kann.

Nach einiger Zeit biegt Harry rechts in eine Seitenstrasse ein und folgt einem Schild, auf dem "Hotel" steht.
"Wo gehen wir denn hin?", erkundige ich mich.
"Wir werden hier übernachten. Heute noch zurück zu fahren tut nichts zur Sache, alle sind aufgebracht und durcheinander."
"Ok", antworte ich leise. Er hat ja recht, er hat immer recht und er weiss genau, wie er mit solchen Situationen umzugehen hat. Ich wüsste nicht, was ich ohne ihn tun würde.
Nach einer kurzen Strecke erreichen wir den Parkplatz des Hotels. Ich steige aus dem Wagen und sehe mich um. Es ist bereits dunkel geworden und die Umgebung macht einen unheimlichen Eindruck. Das grosse Hotel liegt vor uns und durch die Drehtür kann ich bereits die Empfangsdame an der Reception erkennen.

Harry schliesst den Wagen ab und kommt zu mir, um meine Hand zu ergreifen. Er lächelt freundlich auf mich hinab und macht einen grossen Schritt zum Hotel. Ich folge ihm vorsichtig, vergrabe meine zweite Hand in seinem Pulli und atme tief ein.

Durch die Drehtür hindurch erreichen wir den Innenbereich des Hotels.
"Guten Abend", begrüsst uns die Empfangsdame mit einem freundlichen Lächeln. Ich persönlich hätte keine Nerven, hier jeden so freundlich zu empfangen und zu begrüssen. Um diese Zeit ist man doch irgendwie müde und erschöpft und möchte einfach nur noch nach Hause gehen.

Harry und ich näheren uns der Theke und er lässt kurz meine Hand los und wendet sich an die Frau.
"Hallo, wir hätten gerne ein Zimmer für diese Nacht."
"Aber natürlich. Irgendwelche besonderen Wünsche? Zimmerservice? Klimaanlage? Safe?"
Harry denkt kurz nach und sieht zu mir herunter. Er betrachtet meine Hände und sagt dann entschlossen zur Frau: "Den Zimmerservice werden wir wahrscheinlich benutzten, also bitte dieses Angebot. Ansonsten reicht ein normales Zimmer vollkommen aus."
"Oh, das ist aber selten so, dass die Menschen mit sehr wenig zufrieden sind." Sie zwinkert Harry zu und wendet sich nun endlich an mich. "Sag mal Liebes, ist dir nicht wohl? Du wirkst so erschöpft und blass."
"Alles ok", antworte ich und setze mir ein gefaktes Lächeln auf.

"Also, das hier wären Ihre Zimmerschlüssel. Ihr Zimmer ist die Nr. 204 im 3. Stock. Bezahlen können Sie morgen wenn sie wieder auschecken, dies sollte bis 14.00 Uhr geschehen sein. Die Bestellkarte für den Zimmerservice finden Sie auf Ihrem Zimmer."
"Vielen Dank", entgegnet Harry und nimmt ihr den Schlüssel aus der Hand. Ich bedanke mich mit einem Nicken und folge Harry in den Aufzug. Er drückt den Knopf für den 3. Stock und die Lifttüren schliessen sich.

"Wie gehts dir?", fragt er mich.
"Ganz gut, mach dir keine Sorgen. Ich hoffe, deine Mutter ist nicht enttäuscht von dir, sie einfach so zurückzulassen."
"Bestimmt nicht. Für sie ist dies bestimmt die richtige Entscheidung." Er lächelt mich an und nickt.
Der Klang des Aufzugs ertönt und die Türen öffnen sich. Harry geht vor und ich folge ihm langsam. Ich bemerke, wie müde und erschöpft ich eigentlich bin und dass ich nur noch ins Bett möchte. Es war ein verdammt anstrengender Tag.

Hey AngelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt