Stammgast

431 18 0
                                    

Ich reagiere sofort, als ich einen Schritt auf Harry zugehe und ihn stütze um zu verhindern, dass er fällt.
"Komm, wir müssen zurück zum Wagen", gebe ich ihm die Anweisung. Harry nickt kurz und ich sehe mich um. Na toll, ich bin den ganzen Weg bis hier hin sozusagen blind gegangen. Nervös suche ich die Gegend ab, da Harry momentan nicht in der Lage ist, zu sprechen.
Plötzlich entdecke ich das Auto in der Ferne und beginne, darauf zuzugehen. Harry stütze ich mit meiner ganzen Kraft.

Warum nur? Warum musste das genau jetzt passieren, wo doch alles so perfekt war.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichen wir Harry's Wagen. Ich ziehe ihm die Schlüssel aus der Hosentasche während ich ihm dabei helfe, sich auf den Beifahrersitz zu setzen. Ich schnalle ihn schnell an und schliesse die Tür. Schnell renne ich ums Auto herum und setze mich ans Steuer. Ich starte den Motor und fahre mit quietschenden Reifen aus dem Wald hinaus.

Wo liegt denn bitteschön das Krankenhaus schon wieder? Ich versuche, mich an die Adresse zu erinnern. Ich habs: das Warrior Hospital. Ich ziehe schnell mein Handy hervor und schiele darauf, während ich meine Augen immer wieder auf die Strasse richte. Nachdem der Navi das Krankenhaus gefunden hat, lege ich es auf meine Knie um zu hören, wie weit es noch ist. Noch ganze 10 Minuten.
Ich erhöhe das Tempo von 80 auf 120 km/h. Ich scheiss auf das Limit, Harry muss so schnell wie möglich untersucht werden.

Ich wende meinen Blick nach rechts und sehe ihn an. Er hat seinen Kopf in den Nacken gelegt, um das Blut zu stoppen. Seine Haut ist blass und seine Augen rot angelaufen. Ich wickle mir mein Tuch vom Hals und halte es ihm unter die Nase. Er sieht mich an und nimmt es mir ab. Das Tuch färbt sich von weiss zu rot, was mich erschaudern lässt.
Jeder hat mal Nasenbluten, aber nicht so stark. Das Blut fliesst förmlich aus ihm hinaus.

Ich lege meine Hand auf die seine, welche auf seinem Knie ruht. Seine Hand ist kalt und vom Schweiss bereits nass. Er sieht mich mit zwei müden Augen an und ich versuche, mir ein Lächeln aufzuzwingen.
"Es wird alles gut ok? Das verspreche ich dir."
Harry nickt und schliesst seine Augen. Der Griff um meine Hand lockert sich.
"Nein Harry du musst bei mir bleiben. Harry bleib wach." Er rührt sich nicht mehr. O gott nein.

Ich trete aufs Gas und fahre so schnell ich kann. Ein Blick auf mein Handy zeigt mir, dass wir gleich da sein sollten.
Gott beschütze ihn. Er darf jetzt nicht leiden, er muss wieder gesund werden. Die Ärzte meinten ja, dass alles wieder gut sei und der Tumor entfernt wurde. Was war nur los.
Ich bemerke, wie ich immer panischer werde. Ich kann nicht ohne ihn. Sein Anblick reisst mir das Herz raus.

Nach kurzer Zeit erscheint das Schild zum Krankenhaus. Ich biege scharf nach links ab und fahre direkt vor den Eingang des Notfalls. Zwei Rettungssanitäter kommen aus dem Gebäude gerannt und fangen mich ab.
"Was ist passiert Miss?" Ich steige aus und renne zur Beifahrerseite.
"Mein Freund hatte einen Anfall. Er hatte vor kurzem eine OP, bei der man ihm einen Gehirntumor entfernt hat. Bitte, Sie müssen ihm helfen."
Während ich rede öffne ich schnell die Türe und lehne mich über Harry's Körper, um den Gurt zu lösen.
"Ich glaube er ist ohnmächtig." Der Sanitäter nickt mir zu und gibt seinem Kollegen zu verstehen, eine Trage zu holen.

Harry wird aus dem Wagen gehoben und auf die Trage gelegt. Ich schliesse das Auto ab und renne neben ihnen her, während sie miteinander reden. Ich kriege garnichtsmehr mit, da ich alles um mich herum ausgeblendet habe.
Das Einzige was zählt ist er. Sein regloser Körper, der hier auf dieser Trage liegt. Seine kalte Hand, die ich halte.

"Piepen Sie Dr Maison an", verkündet einer der beiden einer Krankenschwester. Diese nickt und zieht ein Telefon heraus, auf dem sie etwas eintippt.
Wir durchqueren einen Gang und zielen eine Tür an. Davor wartet bereits Dr Maison auf uns. Er sieht mich kurz mitleidig an und widmet sich dann Harry. Mit einer Taschenlampe leuchtet er ihm in seine Augen und in die Nase. Er hört sein Herz ab und sieht mich und die Retter an.
"Wir müssen ihm die Nase durchspülen. Ebenfalls will ich ihn im Computertomografen sehen, und zwar schnell."
Die Sanitäter nicken und lösen unsere Hände, worauf ich plötzlich Angst bekomme. Jetzt, da ich ihn nicht mehr spüre, fühle ich mich so alleine und so hilflos.

"Sharon." Ich blicke in die Augen von Dr Maison.
"Harry ist nur bewusstlos, weil er Blut verloren hat. Ich werde ihn jetzt untersuchen, aber er schwebt nicht in Lebensgefahr. Es ist gut, dass Sie ihn sofort hier hin gebracht haben. Setzen Sie sich dort vorne in den Wartesaal. Sobald ich mehr weiss werde ich Sie informieren."
Ohne ein weiteres Wort dreht er sich um und verschwindet durch eine grosse Tür, in der sie Harry vorhin durchgeschoben haben.

Ich drehe mich um und laufe langsam zum Wartezimmer. Ich fühle mich so leer und so ängstlich.
Wie in Trance setze ich mich auf einen der leeren Stühle. Ebenfalls sitzen hier noch ca 5 weitere Personen, die ich aber ignoriere.
Sollte ich Anne anrufen? Oder Gemma? -Nein, sie würden sich zu grosse Sorgen machen. Ich konnte ihnen ja noch nicht einmal sagen, was mit ihm los war. Ich würde sie später anrufen, sobald ich mehr wusste.

Ich kramte mein Handy raus und blickte darauf. Eine ungelesene Nachricht.

Hey mein Schatz. Dein Vater und ich sind gerade in New York angekommen.
Tolle Stadt, wir fühlen uns immer wieder so wohl hier. Vielleicht könnten wir ja hier hin ziehen.
Wie läufts bei dir? Alles ok?
Wir vermissen & lieben dich.
Mom

Na toll, auch das noch.
Ich beschliesse, ihr erstmal nicht zu antworten. Ich habe andere Sorgen als der Gedanke, nach New York zu ziehen.
Ich würde niemals nach New York ziehen. Niemals würde ich weg von ihm gehen. Niemals.

Vor mir erscheinen wieder die Bilder, wie ihm das Blut aus der Nase rinnt. Seine erschrockenen Augen. Seine Locken, die ihm zersaust ins Gesicht hingen, als ich ihn im Auto angesehen habe. Seine kalte Hand, die nach einer gewissen Zeit die Kraft verloren hat.
Ich konnte mir kein Leben ohne ihn vorstellen. Ich liebte ihn so sehr. Er war mein Ein & Alles.
Noch nie habe ich so für jemanden empfunden.
Oma sagt immer, dass man die grosse Liebe nur einmal im Leben findet und man sie niemals loslassen soll, wenn man sie gefunden hat. Ich würde Harry niemals loslassen.

Ich spüre, wie die Tränen hochstiegen und meine Sicht beeinträchtigen. Nein Sharon, jetzt nicht weinen. Du musst stark sein.

"Sharon", ertönt plötzlich eine tiefe Stimme neben mir. Ich hebe meinen Kopf und blicke in ein bekanntes Gesicht.
"Jasper", flüstere ich. Ich erinnere mich daran, wie er mir sein Wasser übergeschüttet hatte.
"Was tust du denn hier?", fragt er mich mit einem Lächeln. Ich versuche es zu erwiedern, doch scheitere.
Als ich an Harry denken muss, schluchze ich laut auf.
Jasper legt seinen Arm um meine Schulter und zieht mich zu sich, während ich zusammenbreche.

Hey AngelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt