Schmerzliche Erinnerungen

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Part 8

Ich wankte und hielt mich gerade noch an dem Jungen vor mir fest, bevor ich umkippte. Er drehte sich erschrocken um und packte meine Handgelenke damit ich nicht den Halt verlor. „Alles okay?!“, rief er mir über die Musik zu. Ich fühlte mich sofort angegriffen und starrte ihn erbost an. „Du kennst mich nicht?!“, rief ich zurück. „Lass mich gefälligst los!“

Wütend riss ich meine Handgelenke los. Der Junge zog die Brauen zusammen und warf mir einen überraschten Blick zu. „Äh, sorry.“, sagte er schließlich laut, sodass ich ihn trotz dem dröhnenden Bass gut verstehen konnte. „Ich hab mir Sorgen gemacht dass du kollabierst oder so.“ „So sind Beliebers halt.“, grinste mich das Mädchen neben mir an. „Wir kümmern uns umeinander. Geht’s dir wieder besser? Hier, du hast bestimmt zu wenig getrunken.“ Sie reichte mir ihre halbleere Wasserflasche und zwinkerte mir zu. „Ich brauch dein Scheiß Wasser nicht.“, maulte ich sie an. Was sollte das denn bitte? Wieso waren die hier alle so aufdringlich?! Der Junge warf mir einen verwirrten Blick zu und drehte sich wieder in Richtung Bühne. Das braunhaarige Mädchen mit der Wasserflasche, ich schätzte sie auf fünfzehn, hielt mir immer noch ihre Flasche hin. Ich zog ihr eine genervte Grimasse und drehte mich weg.

Justin hatte mich noch nicht entdeckt. Inzwischen hatte er das Lied „Be alright“ angestimmt. Neben Dan Kanter saß er auf einem hohen Barhocker und sang gefühlvoll Strophe für Strophe.

Dieses Lied hatte er mir schon immer damals vorgesungen. Wir hatten es zusammen geschrieben und nie daran gedacht, dass es jemals veröffentlicht wurde. Als Justin mir nach einem Jahr verkündete, dass „unser“ Lied groß rauskommen würde, war ich ausgeflippt. Ich hatte ihn gezwungen, meinen Namen unter dem Titel zu streichen. Auf das Geld hatte ich ebenfalls verzichtet. Ich war sauer, dass Justin „unser“ Lied einfach so der Welt offenbarte. Jetzt konnte es jeder hören. Recht war mir das nicht.

Justins Blick schweifte über die Menge und blieb an mir hängen. Ich verzog das Gesicht zu einem Grinsen und hob schwach die Hand zum Gruß. Über Justins Gesicht huschte augenblicklich ein Strahlen. Die letzten Liedzeilen sang er mit voller Kraft. Mein Herzschlag beruhigte sich wieder. Diesmal schien es wirklich anders zu laufen. Die Leute hier schienen mich nicht mehr zu kennen. Doch dann passierte es wieder: Justin stand langsam auf und sagte: „Heute hab ich jemand ganz Besonderes hier: Meine beste Freundin. Sie war schon seit drei Jahren auf keinem Konzert mehr von mir, obwohl ich sie immer und immer wieder überreden wollte. Aber heute hab ich es geschafft. Ich hoffe, es gefällt dir, Love.“ Ich riss die Augen auf und alle Farbe wich aus meinem Gesicht. War er jetzt völlig verrückt geworden?! Alle drehten sich zu mir um. „Lovelyn Manderos?“ „Ach, die ist das?“ „Dass die sich noch her traut…“ „Oh mein Gott, ich hasse diese Bitch so…“ Ausgestreckte Finger zeigten auf mich und ein lautes Murmeln erhob sich. Justin merkte davon nichts und stimmte One less lonely Girl an.

Oh nein. Mein Magen drehte sich um. Es war wieder wie früher. „Du bist das gewesen?!“, fragte das braunhaarige Mädchen mit weitaufgerissenen Augen und starrte mich missbilligend an. Ja, ich war es gewesen. Ich war das Mädchen gewesen, welches Justin vor drei Jahren auf die Bühne geholt hat. Ich war das OLLG vor drei Jahren im Madison Square Garden gewesen. Ich war es gewesen, die im Internet fertiggemacht wurde. Ich war die verhasste Lovelyn Manderos, der Albtraum der Beliebers.

Vor drei Jahren hatte Justin mich auf die Bühne geholt, weil es immer mein Traum gewesen war, das OLLG zu sein. Er hatte angefangen zu singen, mir Blumen geschenkt und es hätte alles perfekt sein können. Wenn ich nicht seine beste Freundin gewesen wäre, und besser ausgesehen hätte, hätten mich die Beliebers vielleicht sogar gemocht. Aber nein, Justin hatte zuvor allen ganz stolz von unserer jahrelangen Freundschaft verkündet. Als ich auf die Bühne geholt wurde, wurde es auf einmal ganz still. Kein Fan schrie mehr. Sie starrten mit weit aufgerissenen Augen zu mir hoch, ihre Blicke hafteten sich an mein schwarzgefärbtes Haar, an meine schwarzen abgekauten Fingernägel, an meine Springerstiefel. Damals wog ich über 90kg, war ungepflegt und hatte keine Freunde. Außer Justin. Ich weiß nicht, warum er mich damals trotzdem mochte. Ich meine, er war ein Weltstar und ich… Trotzdem hatte ich Justin stolz angegrinst, jedes Bracket meiner dicken Zahnspange strahlte im Scheinwerferlicht. Kaum war ich von der Bühne unten und wieder an meinem Platz, ging das Gerede los. Ich war bekannt als das „hässlichste OLLG aller Zeiten.“ In Facebook bekam ich täglich unzählige Nachrichten von Fans, die neidisch waren.

„Du bist so hässlich, und trotzdem bist du das OLLG geworden?!“

„He, fette Kuh, wie viel zahlst du Justin denn so, damit er mit dir befreundet ist?“

Ich hatte mich aus allen sozialen Netzwerken abgemeldet, Justin ignoriert, Diät gehalten und mehr Wert auf mein Äußeres gelegt. Auch wenn ich jetzt gut aussehe, bin ich immer noch Lovelyn. Das hässliche OLLG von damals. Ich bin immer noch asozial, wenn man es so sagen will. Aber man merkt es nicht mehr. Mein Verhalten lässt zwar manchmal zu wünschen übrig, aber zumindest sieht man es mir nicht mehr auf zehn Meter Entfernung an. Komisch, wie oberflächlich die Welt ist. Kaum bin ich gepflegter und hübscher, startet eine Karriere als Schauspielerin für mich.

Mit einem Ruck landete ich zurück in der Gegenwart. Justin war immer noch auf seiner Bühne in Disneyland. Er hatte zum Glück ein fremdes OLLG ausgewählt und nicht mich. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass alle Beliebers von mir weggerückt waren. Als ob ein Schild auf meinem Rücken kleben würde mit der Aufschrift: „Achtung, Außenseiterin. Nicht berühren, Ansteckungsgefahr.“

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