Tag 99

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Lachend sitzen Ahnah, Yukka und Natasha vor mir und sehen mir zu, wie ich versuche, den Lachs, den Yukkas Mann mitgebracht hat, auszunehmen.

Ich stehe in Yukkas Küche, mittlerweile bin ich in der 22. Schwangerschaftswoche und mein Bauch lässt sich langsam nur noch schwer verstecken. In dem kleinen Raum ist es warm und ich versuche wirklich, dem Lachs vor mir zu Leibe zu rücken, trotz aufsteigender Übelkeit.

Ich bin seit meiner ersten Begegnung mit den Bewohnern von Point Hope überall herzlich und offen aufgenommen worden, und keiner hat mich bedrängt, als ich die ersten zwei Wochen jeden Kontakt vermieden habe. Aber ab und an musste ich jedoch einkaufen oder mal raus, und auch durch die Bürotätigkeit bei Bill und den dadurch entstehenden Kontakt zu Menschen, konnte ich mich dem Charme von Point Hope nicht entziehen.

Die meisten nennen mich Anori, aber das macht mir nichts. Sie meinen es respektvoll und ich habe von Yukka ein paar Brocken Inuit gelernt. Jedes Wort hat so viele Bedeutungen und es ist faszinierend, in diese Welt einzutauchen. Bill lacht immer, wenn ich unbeholfen versuche, einige Worte von mir zu geben und korrigiert mich ebenso milde, wie der Rest der Einwohner, die mich als eine der ihren akzeptieren. Freitags treffen wir uns meist im Gemeindehaus, weil es in Ahnahs Cafe doch ein wenig zu eng ist für alle Bewohner.

Alt und jung leben hier harmonisch miteinander, Fischfang und die Anpassung an die karge, raue Umwelt prägen das einfache, aber zufriedene Leben. Ich habe gestern mit Asuilaak, Yukkas Bruder, das Kinderzimmer gestrichen und jede Menge Spaß mit ihm gehabt, weil er so lustige Geschichten von den Bewohner erzählte, die mir ja alle mittlerweile bekannt sind. Am Ende des Tages war das Zimmer in einem kräftigen Orange fertig und ich um einige Informationen reicher. Ich kann wieder lachen, woran auch mein Junior schuld ist. Ich liebe mein Baby und es gibt nichts, was ich mehr herbeisehne, als ihn in den Armen zu halten. Ahnah hatte Recht mit dem Geschlecht, und ich habe vor Freude geweint, als ich es beim Arzt auch noch offiziell bestätigt bekommen habe.

Bill hat mir verraten, dass es mittlerweile Wetten auf den genauen Geburtstermin gibt, und ich habe fünf Dollar gesetzt, auf den 12. April, welcher genau der Termin ist, den Doc Oak berechnet hat. Gestern ist er in Rente gegangen und wir erwarten seinen Nachfolger morgen mit Bill, der gerade in Anchorage ist, zurück. Ein junger, neuer Arzt. Dr. Philipp Moore. Die weibliche Bevölkerung ist darüber in heller Aufregung, aber der einzige Mann, der mich interessiert, schläft gerade und ist mir bei meinem Vorhaben, Lachs auszunehmen, nicht wirklich behilflich.

„Ana, hör auf mit dem Messer herumzuwerkeln und leg endlich los, entschlossen und mit einem sauberen, schnellen Schnitt", brummt Ahnah und ich nicke.

Ein paar Minuten später ist der Fisch ausgenommen und ich sehe angewidert auf mein Werk. So indianisch werde ich wohl nie, dass ich das gern mache.

„Yukka, sag deinem Mann bitte, ich nehme den Fisch doch lieber ausgenommen. Ich glaube nicht, dass ich das freiwillig nochmal tun werde, wenn ich nicht muss", stöhne ich und sogar die kleine vierjährige Natasha lacht.

„Anori ist empfindlich", kräht sie und Yukka gibt ihrer Tochter einen Nasenstüber.

„Ja, aber im Notfall kann sie es jetzt alleine."

Ich grinse schief. Hier habe ich etwas Wichtiges gelernt. Es ist nicht notwendig, alles immer alleine zu tun, aber im Notfall sollte man sich helfen können. Dadurch fällt es mir immer leichter, auch Hilfe anzunehmen, was ich früher nicht konnte. Oder kleine Geschenke, die mir der ein oder andere, auch für mein Baby, macht.

Als ich von Yukka gefragt wurde, wo der Vater des Kindes ist, auf einem Treffen mit fast dem gesamten Ort, und ich ihr die Geschichte meiner kurzen Ehe erzählt habe, war mir dies das erste Mal nicht peinlich oder unangenehm. Zwar tat es weh, aber hier geht man mit vielem anders um. Das Ende vom Lied war, dass immer mehr Leute mir zuhörten, wie ich erzählte, dass mein Mann mich kurz nach der Hochzeit nicht mehr wollte und kurz darauf eine andere Frau hatte. Es war einer der Ältesten, der nur nickte, und meinte, dass es gut wäre, dass ich gegangen sei. Ein Leben ohne Liebe sei kein Leben für ein Kind.

50 Shades of RegretWo Geschichten leben. Entdecke jetzt