Tag 305

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Ich möchte nur noch nach Hause. Nach Hause ist Point Hope. Ich bin innerlich wie ausgebrannt und weiß nicht, was ich empfinden soll. Was ich empfinden möchte.

Christians Eröffnung hat mich total überfordert. Ich verstehe meinen komplexen, abgefuckten Mann wohl besser, als alle anderen, denen er mit seinem Verhalten so viel Schmerz und Leid zugefügt hat. Und das ist wohl auch der Grund, warum ich ihm nicht vergeben kann. Noch nicht. Vielleicht nie. Ich liebe ihn, und die Tatsache, dass er mich nicht betrogen hat und mir versichert, mich zu lieben, ist Balsam für mich. Aber sie lindert in keiner Weise den Schmerz, den er mir zugefügt hat.

Den Schmerz, den mir die Wahrheit zugefügt hat. Das ist etwas, was ich momentan nicht kontrollieren kann. Er hat alles mit Füssen getreten, was wir uns nur Wochen zuvor feierlich geschworen hatten.

Ich konnte mich nicht beruhigen gestern und Christian hat wohl irgendwann Angst bekommen, während aus mir alles herausgebrochen ist. Er hat mich zum Haus getragen, wo Grace mir tatsächlich ein leichtes Beruhigungsmittel gespritzt hat und ich dann, mit meinem Sohn an meiner Seite, wie ein Rettungsanker, im Bett gelandet bin. Ich konnte am Ende nicht mal mehr denken, habe Ted mechanisch versorgt und bis auf Ray, der einfach stumm mit einer Zeitschrift in mein Zimmer kam und ruhig gelesen hat, niemanden in meiner Nähe ertragen.

Nachdem ich Ted versorgt habe, gehe ich in die Küche, wackelig und noch total ausgepowert. Ich versuche nicht, an das zu denken, was er mir gestern gesagt hat. Ich kann hier nicht denken. Ich kann hier gar nicht mehr denken, vor allem, weil er hier ist. Obwohl es mir für die Familie leid tut, habe ich einen Entschluss gefällt. Ich will so schnell es möglich ist nach Hause.

Ray und Grace sitzen am Küchentisch und sehen mich vorsichtig an. Ich reiche Ray seinen Enkel, der heute wieder der reinste Sonnenschein ist, und scheinbar alles gut verkraftet hat. Keine Temperatur, keine Verhaltensauffälligkeit. Immerhin meinem Sohn geht es gut, und das ist alles, was zählt.

„Guten Morgen, Liebes", begrüßt mich Grace sanft, und schenkt mir einen Tee ein.

„Wie geht es dir?", fragt Ray und ich zucke nur mit der Schulter.

Wie soll es mir gehen? Glauben tatsächlich alle, er müsste nur seine Geschichte erzählen, ein zerknirschtes Gesicht machen und ich könnte einfach zur Tagesordnung übergehen und die letzten Monate einfach aus meinem Gedächtnis streichen?

„Ich werde nach Hause fliegen", sage ich ruhig, und ich fühle mich auch so.

Ich muss das in Ruhe und vor allem an einem Ort überdenken, wo ich absolut ich selbst sein kann. Wo mich keiner bedrängt und mir keiner Schuldgefühle macht oder eine Entscheidung erwartet.

Ray nickt, als hätte er genau das vorausgesehen.

„Ich komme mit. Bill hat mich eh mal zum Angeln eingeladen", sagt er nur, während Grace mich enttäuscht ansieht.

„Siehst du keine Möglichkeit, das mit Christian zu klären? Oder ihm zu vergeben?", fragt sie traurig.

„Grace, ich sehe momentan überhaupt keinen Weg, ich brauche ein wenig Abstand. Ich kann nicht denken, ich kann nicht fühlen, und schon gar keine weitreichende Entscheidung treffen."

„Aber du besuchst uns mit Ted, oder? Wir kommen auch gern zu dir, Liebes?", fragt sie und ich nicke.

„Ich muss noch mit Christian sprechen, Grace. Aber ich denke, ich werde heute Abend fliegen", murmle ich.

„Soll ich ihn anrufen?", bietet Grace an und ich nicke dankbar.

Eine Stunde später, ich warte im Wohnzimmer seiner Eltern auf ihn, ist er da und tritt vorsichtig ein. Ich habe die Klingel gehört und seitdem Herzklopfen. Aber wenn ich nicht mit ihm spreche, wird er wieder überreagieren, wenn ich abfliege. Er sieht aus wie ein kleiner Junge, der auf seine Bestrafung wartet, und allein sein traurig-besorgter Gesichtsausdruck tut mir weh.

50 Shades of RegretWo Geschichten leben. Entdecke jetzt